Erschienen in Dahlem & Grunewald Journal Februar/März 2024
Sie stehen am Ende der Kette: Tierpathologen, die nach dem Tod eines Tieres auf der Suche nach Krankheits- und Todesursache seine traurigen Reste auskehren. Einer von ihnen ist Univ.-Prof. Dr. Achim Gruber, Veterinärmediziner und Leiter des Instituts für Tierpathologie am Fachbereich Veterinärmedizin der Freien Universität Berlin in Düppel. Viel Erschütterndes und zum Nachdenken Anregendes haben ihn die toten Tierkörper auf seinem Tisch über die Jahre gelehrt: Schmerzhafte orthopädische Erkrankungen, einschränkende Allergien, lebensverkürzende Krebserkrankungen und Sinnesstörungen werden für Prof. Gruber und seine Kollegen bei ihrer Arbeit täglich sichtbar und klagen stumm an. Sie haben den überzeugten Tierfreund zum Erfolgs-Autor gemacht, ihn auf Mission gegen vermeidbares Tierleid geschickt.
Mit dem Ziel, die Gesellschaft auf bestehende Missstände aufmerksam zu machen, zum Umdenken und Handeln anzuregen und die kommenden Generationen für ein Tierleid zu sensibilisieren, das mit rechtzeitigem Nachdenken hätte verhindert werden können, ist der Pathologe nun einmal mehr in die Autoren-Rolle geschlüpft: Bereits mit seinem Bestseller-Sachbuch „Das Kuscheltierdrama“ hatte der Tierpathologe 2019 auf Missstände in der Haustierhaltung und ihre Folgen aufmerksam gemacht und damit die Grundlage für zwingend notwendiges tierschützerisches Umdenken gelegt. Daran knüpft er nun mit seinem neuen lösungsorientierten Sachbuch „Geschundene Gefährten“ sensibel und aufrüttelnd zugleich an.
Wir Menschen blicken mit falschem Stolz auf eine von uns über die Jahrtausende geschaffene beeindruckende Rassenvielfalt von Hunden und Katzen, die wir in ihrer Anatomie, ihrem Verhalten, ihrem Wesen und Aussehen ganz auf unsere Bedürfnisse hin- und damit krankgezüchtet haben. Wie falsche Zuchtideale für die Tiere in verhängnisvolle Sackgassen und auf Irrwege voller schmerzhaften Hindernisse führen können, ist für uns deutlich sichtbar, für unsere vierbeinigen Gefährten aber, für die wir doch eigentlich nur das Beste wollen, äußerst schmerzhaft. Das Missverhältnis zwischen Anlagen und Belastbarkeit zeigt sich beispielsweise deutlich in Bandscheibenvorfall-begünstigenden Rückenanomalien durch immer kürzer gezüchtete Dackelbeine, in ständig tränenden Katzenaugen als Folge immer flacher gezüchteter Nasen; ganz zu schweigen von Defekten, die für uns nicht auf den ersten Blick sichtbar, für das Tier aber umso quälender sind.
Es ist also höchste Zeit – für mache Rassen sogar schon zu spät – zu handeln und die Reißleine zu ziehen, um weiteres Tierelend zu verhindern.
Die Thematik der „Qualzucht“ dürfte inzwischen hinreichend bekannt sein angesichts zerknautschter Mopsgesichter und röchelnder Bulldoggen in den Medien. Dass Prof. Gruber in seinem Buch aber von „Defektzucht“ spricht, hat seinen guten Grund: „Das Wort „quälen“ bezeichnet eine absichtliche Handlung, die ich keinem Hundehalter, keiner Züchterin und keinem Züchter oder Rassefreund unterstelle“, erklärt der Berliner Pathologe, der mit seinem Buch aus der Sicht des verantwortungsbewussten Tierarztes Türen öffnen will, anstatt durch Vorwürfe Mauern zu errichten. So zeigt er die für die Tiere fatalen „Nebenwirkungen“ der sogenannten Zuchterfolge aus den vergangenen 150 Jahren Rassereinzucht bei Hund und Katze medizinisch verständlich auf, auflockernd anschaulich mit Geschichten untermalt. Diese Nebenwirkungen zeigen sich in mehr als 500 genetisch bedingten, größtenteils bei der Zucht oder Domestikation entstandenen Krankheiten und bringen erhebliches Tierleid mit sich. Ursprünglich widerstandsfähigen Rassen wie Bernhardiner oder Berner Sennenhund brachten durch falsche Zuchtziele bedingte Genschäden und Funktionsdefizite inzwischen fast das AUS und verlangen konsequentes Umdenken.
Prof. Gruber gibt mit seinem Buch ebenso dem angehenden Hundehalter wie dem potentiellen Züchter fachkundige Hilfestellung, um über die richtige Tierwahl letztendlich mehr Tierwohl zu bewirken. – Trägt der auf eine ganz bestimmten Hunde- oder Katzenrasse eingeschworene Freund doch indirekt mit dazu bei, einen inzwischen längst ausgeschöpften Rasse-Genpool mit brackig-ungesundem Genschlamm aufzufüllen. Gruber führt in seinem Buch vor Augen, ohne anzuklagen, nennt Grenzen, die man korrigieren muss und zeigt Lösungswege und Auswege auf, bei denen in Zukunft dank kontinuierlicher Forschung vielversprechend Gentests, Genschere und Klonen eine wichtige Rolle spielen und zum Einsatz kommen werden: Für einen rettenden Ausstieg aus den Folgen krankmachender Zuchtziele. Dabei lässt er den tieraffinen Leser sich nicht bequem zurücklehnen, sondern nimmt ihn mit in die Pflicht, seine eigene Verantwortung als Tierfreund zu entdecken, wahrzunehmen und ggf. zum Wohle der Tiere umzudenken. Woher will er welches Haustier beziehen, welche Ansprüche hat welche Rasse, und kann er ihr als Haustierhalter überhaupt gerecht werden? Fragen, die sich ein verantwortungsbewusster Tierfreund beizeiten stellen muss. Fatales Zuchtbemühen um das Herauszüchten besonders beliebter Rassemerkmale wird zusätzlich durch Vermenschlichung unserer Haustiere und falschverstandene Tierliebe befeuert. Daraus entstehen dann nicht selten pelzige Pflegefälle, die anstatt eines widerstandsfähigen gesunden Haustieres ins Körbchen einziehen. Doch Umdenken setzt Verstehen voraus. Dazu trägt der hohe Informationswert dieses Buches bei, das nie langweilig wird, Zusammenhänge eingängig aufzeigt und außerdem zum Nachdenken und zum Austausch mit gleichgesinnten Tierfreunden anregt.
Prof. Gruber gelingt es mit wohldosiert zwischen die Buchzeilen gestreuter Empathie keine medizinische-wissenschaftliche Abhandlung oder Anklageschrift zu verfassen, sondern einen ebenso tier- wie menschenfreundlichen Ratgeber anzubieten, der den steinigen langen Weg von „geschundenen Gefährten“ zu „gesundenden Gefährten“ ebnen will, begleitet von sicherem Fachwissen und voller Hoffnung. Dabei legt der Berliner Pathologe durchaus den Finger in eine derzeit klaffende Wunde. Er zeigt objektiv auf, wo in der Vergangenheit die Fehler gelegen haben, die schließlich zum bestehenden Rassedilemma – auch im Nutztierbereich – führten. Fehler, aus denen man lernen sollte, anstatt sie weiterhin zu begehen. – Wobei weniger Rasse mehr Tierwohl bedeutet.
Denn egal ob Designerhund, Jagd- oder Gebrauchshund, Perser- oder Maine-Coon-Katze: Als beste Freunde und Gefährten des Menschen haben sie alle rasse- und modeunabhängig ein Recht auf Kreuzungszucht anstatt Inzucht und damit auf Gesundheit und ein lebenswertes Tierleben. Dahingehend könnte zukünftig dem so oft naserümpfend begegneten, jedoch genstabilen Mischlings- und Straßenhund oder der dreifarbigen Glückskatze von wer weiß-woher eine durchaus wichtige genauffrischende Rolle bei der Rettung einer total genverarmten Rasse zugeschrieben werden. Weiß man doch dank aktueller Forschung inzwischen genau, warum Erbdefekte entstehen und wie ihnen zu begegnen ist.
Der Pathologe Prof. Dr. Achim Gruber ist seit 20 Jahren Direktor des Instituts für Tierpathologie an der Freien Universität Berlin. Zu Beginn seiner medizinischen Laufbahn war er als Kleintierpraktiker tätig, und so schlägt sein Herz auch heute noch stark für diesen Fachbereich. Prof. Gruber ist Mitherausgeber und Co-Autor der beiden deutschen Standardwerke zur Tierpathologie und als einziger Tiermediziner ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Zum überholungsbedürftigen Rassekonzept mahnt er in seinem neuen Buch zugunsten von Tierwohl und Tiergesundheit. Nicht zuletzt über seine Publikationen will er, dem die Tiere von frühester Jugend am Herzen liegen, Tierhalter, Züchter, Tierheime, Wissenschaftler, Tiermediziner und Studierende, aber auch die Verantwortlichen unseres in vielen Punkten verbesserungswürdigen Tierschutzgesetzes miteinander ins konstruktive Gespräch bringen. Zur Aufarbeitung in der Vergangenheit begangener Zuchtfehler hat er dieses Sachbuch „Geschundene Gefährten“ geschrieben. Prof. Gruber führte im Vorfeld über zwei Jahre lang umfangreiche Gespräche mit Kollegen, Chirurgen, Praktikern und Wissenschaftlern und steht in regelmäßigem Kontakt und in Zusammenarbeit mit dem Tierheim Berlin, das die Auswirkungen falscher Zuchtziele zunehmend auch an aufgenommenen Tieren zu spüren bekommt. „Geschundene Gefährten“ stellte der Autor mit großer Resonanz dort am 5. Oktober 2023 der Öffentlichkeit vor.
Jacqueline Lorenz
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