Gazette Verbrauchermagazin

Für eine andere Sicht auf Menschen mit Querschnittlähmung

Außergewöhnliches Buch und passende Ausstellung zum Nachdenken

Prof. Dr. Lilli Köpcke und Arne Schöning – Herausgeber und Projektpartner. Foto: FDS
Prof. Dr. Lilli Köpcke und Arne Schöning – Herausgeber und Projektpartner. Foto: FDS
Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau März 2019
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Rund 100.000 Menschen mit Querschnittlähmung leben in Deutschland, und jährlich kommen etwa 1.800 Betroffene dazu. Einschränkungen im alltäglichen Leben sind für sie an der Tagesordnung. Ein Großteil dieser Einschränkungen ließe sich vermeiden, würde die Umwelt etwas mehr auf ihre Perspektive ausgerichtet sein. Inklusion und Integration mit Querschnittlähmung lebenden Menschen wäre dann in unserer Gesellschaft längst selbstverständlich und geläufig.

Das Buch „Menschen mit Querschnittlähmung – Lebenswege und Lebenswelten“ von Prof. Dr. Jessica Lilli Köpcke, Studiengangleiterin Heilpädagogik an der Medical School Berlin, und dem mit Querschnittlähmung lebenden Kommunikationsexperten und freien Fotografen Arne Schöning ist ein gutes Beispiel für das gelungene Zusammenspiel von Wissenschaft und Partizipation, das mithilfe von Storytellings und einprägsamen Fotografien die alltäglichen Lebenswege und Lebenswelten querschnittgelähmter Menschen näher bringt, zum Nachdenken anregt und Verständnis vertieft. Verstärkt wird die Wirkung des Buches durch die dazugehörige Wanderausstellung mit Lesungen, beeindruckenden Fotos und Texten, die noch bis zum 22. März 2019 in der Villa Donnersmarck in Berlin-Zehlendorf Station macht.

Viel mehr als Momentaufnahmen

Die Menschen, die in Buch und Ausstellung „als Experten in eigener Sache“ zu Wort kommen oder sich im Foto aussagekräftig präsentieren, haben von sich aus – manchmal auch provozierend – Themen aus den Bereichen Lebenswelten, Arbeitsleben, Abenteuersport, Liebe und Sexualität sowie Wahrnehmung von Querschnittlähmung angesprochen, nach dem Motto: „Das stört mich schon lange, das muss gesagt werden.“

Orientiert an der Methode des Storytellings, erzählen sie ihre Geschichte und ihr Leben mit eigenen Worten, authentisch und unverfälscht. Während die junge Professorin Dr. Lilli Köpcke von wissenschaftlicher Seite aus mit dem Projekt „para-normal-lifestyle – Eine andere Sicht auf Querschnittlähmung“ wichtigen Input zum Thema Querschnittlähmung liefert, gehört der durch einen Unfall querschnittgelähmte Arne Schöning mit zur Autoren-Gruppe der in Form des partizipativen Sozialforschungsprojektes zusammengetragenen Lebensgeschichten. In Weiterentwicklung des Projektes gab er mit der Kamera den mit dem Rolli lebenden Menschen, die sich nicht allein mit Worten, sondern über das Bild auszudrücken suchten, die Möglichkeit dazu. „Manche sagten, dass Schreiben nicht ihr Ding sei und waren dann begeistert von ihren Fotos. Da war der Fotoapparat hilfreich“, erklärt Hobbyfotograf Schöning, der als Projektbegleiter sozusagen auf Augenhöhe und in vertrauensvoller Shooting-Atmosphäre weit über 100 Fotos schoss. Das lesens- und sehenswerte Ergebnis zeigt sich nun in Buch und Ausstellung gleichermaßen überzeugend:

Da ist die junge Basketballerin und „rolling Mom“ Maria Kreß, die das Wunder der Geburt ihrer kleinen Tochter in „Love and Basketball“ berührend erzählt, dabei aber auch die oftmals unverständlichen Reaktionen ihrer Mitmenschen nicht verschweigt; da ist Dennis Sonne aka Sittin`Bull. Trägt er sonst seine Botschaften in Songtexte verpackt auf Deutschlands Bühnen vor, beschreibt er im Buch seinen Werdegang als Musiker und rät „Singt meinen Song.“; auf einem Foto fährt in seinem Rolli mit Stolz und Entspannung im Gesicht „Vaterfigur“ Steven Dylla inmitten von Spaziergängern, vor die Brust gebunden sein Kind; die ehemalige Weltklasse-Schwimmerin Kirsten Bruhn liefer auf ihre Weise Denkanstöße zum Thema „Barrierefrei!?!“, und Achim Freund erzählt vom „Leben auf der Überholspur“, und wie ihn das Motorrad aus der Bahn brachte.

Hat man das Buch einmal in der Hand, kann man es so schnell nicht wieder weglegen. Klappt man es schließlich zu, hat man zwar eine klarere, verständnisvollere Sicht auf die mit Querschnittlähmung inmitten unserer Gesellschaft lebenden Menschen bekommen, aber auch einen besseren Blick für die auf sie einwirkenden, alltäglichen Einschränkungen. Sie gilt es zu beseitigen, um Inklusion alltäglich werden zu lassen.

Wanderausstellung on tour

Die Worte und Bilder des Buches weiter in die Gesellschaft zu tragen, ist Aufgabe der dazugehörigen Ausstellung, die ermöglicht wurde durch die ideelle und finanzielle Unterstützung von Partnern wie der Fürst Donnersmarck-Stiftung, der Deutschen Stiftung Querschnittlähmung, der Fördergemeinschaft Querschnittgelähmter in Deutschland e. V., der Hörfilm e. V. und dem W. Kohlhammer Verlag.

23 Personen geben in Textausschnitten und auf großformatigen Foto-Drucken Einblicke in ihr Leben mit Querschnittlähmung. Die Fürst Donnersmarck-Stiftung öffnete in der Zehlendorfer Villa Donnersmarck am 2. Februar 2019 ihre Türen zur Vernissage. An diesem bestens geeigneten, barrierefreien Ort für inklusives Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung nach dem Stiftungs-Motto „Mittendrin – so wie ich bin“ wird mit dieser Ausstellung unverfälscht und echt ebenso spannendes und ernstes wie skurriles und nachdenkliches offeriert. Hier, wo zweimal jährlich hochkarätige Ausstellungen die Gäste erwarten, ist die aktuelle Präsentation etwas Besonderes: „Meist steht bei uns die Kunst im Vordergrund. Diesmal sind es aber die mit Querschnitt lebenden Menschen und ihr Alltag, die im Mittelpunkt stehen“, betont Sean Bussenius von der Fürst Donnersmarck-Stiftung, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit. Und er weist auf ein besonderes Highlight hin, das sich keiner entgehen lassen sollte: Mit Unterstützung der „audio­skript“ – Träger des Deutschen Hörfilmpreises 2018 – die u. a. barrierefreie Filmfassungen für blinde und gehörlose Menschen produziert und Live-Audiodeskriptionen für Theater sowie blindengerechte Audio-Führungen für Museen realisiert, wird die Ausstellung durch eine Audiodeskription für Menschen mit Sehbehinderung ergänzt und gänzlich barrierefrei erfassbar.

Sean Bussenius rät den Besuchern: „Mit geschlossenen Augen sollten auch Sehende ruhig einmal an ein Foto herantreten und über QR-Code und Audio­deskription sich die Bilderbeschreibung anhören. Ich habe es selbst ausprobiert und festgestellt, dass ich als Sehender viel weniger Einzelheiten des Foto wahrgenommen habe, als darauf zu sehen sind.“ Die Bildbeschreibungs-Texte wurden von einem audio­skript-Tandemteam verfasst: Sehender und nichtsehender Redakteur erarbeiteten die Texte gemeinsam, so dass die Ausstellungs-Bildbeschreibungen nun genau auf die Bedarfe der Nichtsehenden zugeschnitten sind.

Arne Schöning erklärt dazu: „Die Qualität von Buch und Ausstellung ist nicht zuletzt auf die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit Betroffenen in eigener Sache und die gemeinsame Auswahl der Texte und Fotos unter wissenschaftlich fundierter Begleitung zurückzuführen.“

Einig sind sich Arne Schöning und Sean Bussenius über nächste Ziele des Projektes:

„Nachdem Buch und Ausstellung nun in der Szene von Menschen mit Behinderung vorgestellt sind, ist es an der Zeit, auch andere Ausstellungsorte zu finden, die allgemeingültig sind für Menschen mit UND ohne Behinderung.“ Dabei denken beide an Rathäuser, Landtage und öffentliche Einrichtungen unserer Gesellschaft – als selbstverständliche Inklusionsorte.

Informationen zu Projekt, Ausstellungsorten, Lesungen und Schulungen unter www.menschen-mit-querschnittlähmung.de

Die Ausstellung zum Buch „Menschen mit Querschnittlähmung – Lebenswege und Lebenswelten“

Bis 22. März 2019 in der Villa Donnersmarck, Schädestraße 9-13
14165 Berlin-Zehlendorf
Mo.-Fr. 10-16 Uhr
Eintritt frei
Weitere Informationen unter www.villadonnersmarck.de

Jacqueline Lorenz

Titelbild

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