Erschienen in Lichterfelde West Journal August/September 2017
Rund 1,6 Menschen in Deutschland leben mit Demenz, einer Kombination von Symptomen zunehmenden Abbaus kognitiver, emotionaler und sozialer Fähigkeiten. Verschiedenste Ursachen können dafür verantwortlich sein.
In ihrem gewohnten Lebensraum sind sie je nach Schweregrad der Erkrankung auf Betreuung und Unterstützung angewiesen, die häufig von den Angehörigen kommt. Mit der Erkrankung schwindet oft auch die Lebensqualität. Rückzug aus der Gesellschaft und Isolation erfahren dann nicht nur die Erkrankten selbst, sonder auch die begleitenden Angehörigen. Dass dies nicht mehr zwangsläufig so sein muss, ist der Diakonie-Initiative zu verdanken, die 2004 Projekte für Menschen mit Demenz auf den Weg brachte.
Doch auch die Betroffenen selbst – Erkrankte wie Angehörige – sind gefordert: Sie müssen den Mut aufbringen, sich zu öffnen und die angebotene Unterstützung anzunehmen.
Ein Projektträger ist der Diakonieverein Lankwitz e. V. in der Kaiser-Wilhelm-Straße 75-79. Er bietet mit der von Pflegekassen und Senat anerkannten „Diakonie-Haltestelle Lankwitz“ stundenweise Betreuung in Lankwitz für zu Hause lebende Menschen mit Demenz und damit eine Perspektive hin zu mehr Lebensqualität und Wohlbefinden. Die Beratung und Begleitung ist kostenfrei, sie beinhaltet die Hilfe bei Antragsstellung oder Vermittlung alltagserleichternder Leistungen.
Für die Betreuung wird ein Leistungsentgelt erhoben. Da Personen, die nach § 45a SGB XI „einen erheblichen Bedarf an allgemeiner Beaufsichtigung und Betreuung“ haben, monatlich bis zu 125 Euro von der Pflegekasse erstattet bekommen, können sie daraus die Betreuungsstunden zahlen. Die ihnen entstehenden Kosten dafür sind gering und liegen bei etwa 10 Euro pro Stunde.
Vor sieben Jahren baute Sozialarbeiterin und Gerontotherapeutin Gisela Müller als Projektleiterin die Besuchsgruppe mit vier ehrenamtlichen Mitarbeitern auf, die inzwischen auf drei männliche und 17 weibliche ehrenamtliche Besuchskräfte zwischen 50 und 70 Jahren angewachsen ist und zu denen seit kurzem auch eine Studentin gehört. Pflicht ist für die Mitarbeiter, die mit Vertrag, Unfall- und Haftpflichtversicherung tätig werden, vorab der Erwerb einer Grundqualifizierung an der Diakonischen Akademie in der Steglitzer Paulsenstraße und ein Fortbildungstag pro Jahr. Die Weiterbildung beinhaltet beispielsweise Themen wie Gedächtnistraining oder den richtige Umgang mit schwierigen Situationen. Monatlich kommt die Gruppe um Gisela Müller zur Supervision und Aussprache zusammen. Dann können Probleme gemeinsam besprochen, Lösungen gefunden werden. Die Gruppe besitzt hohe Kontinuität, Mitarbeiterwechsel sind hier selten, nicht zuletzt dank der besonderen Empathie und Professionalität ihrer Leiterin.
Eine Klientin – das Wort Patient wird hier bewusst vermieden – fragte die Leiterin einmal: „Sie sind doch die mit dem Bus?“ Und so ist Gisela Müller bis heute „…die von der Diakonie-Haltestelle“ geblieben. Ihre kreativen und lebendigen Mitarbeiter, die mit im Bus sitzen, machen überall da halt, wo an Demenz erkrankte Menschen und ihre Angehörigen Halt suchen, aber besuchen im Einzelfall auch Menschen anderer Erkrankung mit Pflegegrad. Sie sind zur Stelle, um Halt zu geben und finden ihn dabei manchmal auch selbst, wie Gisela Müller weiß. Dabei ist das Ziel, dem Menschen seine noch vorhandene Alltagskompetenz zu erhalten und ggf. verschüttet geglaubte Fähigkeiten wiederzuerwecken. Auch geht es darum, die Angehörigen zu entlasten, so dass sie etwas mehr Zeit für sich haben und ihren betreuungsbedürftigen Verwandten oder Ehepartner in professioneller Begleitung wissen.
„Wir arbeiten MIT den Klienten, aber nicht FÜR sie“, betont Gisela Müller. Da wird, wenn der Besuchte es wünscht, zusammen mit ihm gekocht, gemeinsam eingekauft oder eine Bluse zusammengelegt – als ein Training gefährdeter, fast verlorengegangener Alltagskompetenzen. Oder es wird ganz nach Wunsch und Interesse vorgelesen, erzählt, Musik gehört oder spazieren gegangen, denn das Wohlbefinden steht im Vordergrund. Vertrauen und Verlässlichkeit sind die wichtigste Voraussetzung, um eine tragfähige Beziehung zwischen Besuchtem und Besucher zustande kommen zu lassen.
Dies zu erreichen, geht Gisela Müller mit ihrem Team behutsam Schritt für Schritt vor, wenn sich Interessenten für einen Hausbesuch angemeldet haben:
Das erste Mal besucht die Leiterin alleine die Klienten, um sie, deren Lebenssituation und die Angehörigen und Begleitenden kennenzulernen. „Jeder Mensch ist anders, aus der ersten Kontaktaufnahme kann ich ableiten, wer im Team als Besucher geeignet wäre, der noch Besuchskapazitäten frei hat. Ich lerne eventuelle Vorlieben und Hobbys des neuen Klienten kennen und wähle denjenigen Mitarbeiter aus, der meiner Erfahrung nach gut passen könnte.“ Dies ist wichtig, um später ein Vertrauensverhältnis aufbauen zu können, das mit dem nötigen Spielraum zwischen Nähe und Distanz zur Verbesserung der Lebensqualität des Besuchten beiträgt.
In einem zweiten Besuch begleitet Gisela Müller der ausgewählte Mitarbeiter. Der nimmt nun ersten Kontakt zu seinem zukünftigen Klienten auf, und oft ist das der Beginn einer jahrelangen, beiden Seiten wohltuenden Begleitung. Zum dritten Besuch schließlich erscheint nur der Mitarbeiter. Anschließend befragt Gisela Müller beide Seiten – Besuchten und Besuchenden – über deren Eindrücke und Empfindungen. Die Chemie muss stimmen und ohne Sympathie läuft nichts. Erst dann, wenn beide Seiten harmonieren, wird der Besuchsvertrag zwischen ihnen geschlossen. Die Besuchszeiten werden flexibel gewählt, den Bedürfnissen der Erkrankten und ihrer Angehörigen angepasst. – Ein Anspruch, den kein Pflegedienst erfüllen kann.
„Wir haben erlebt, dass ein demenzkranke Ehepartner kein Wort mehr sprach und unter unserer Besuchsbetreuung wieder zu sprechen anfing“, erzählt die Koordinatorin, das sei dann der schönste Lohn.
Derzeit betreut die Haltestelle 25 Lankwitzer Klienten. Zwischen 10 und 12 Stunden monatlich ist jeder ehrenamtlicher Betreuer im Einsatz. Im Jahr 2016 erbrachte die Haltestelle rund 1300 Besuche mit 3000 Betreuungsstunden, durchschnittlich 250 Stunden monatlich. Dennoch muss Gisela Müller jedes Jahr neu die Grundfinanzierung beantragen und wünscht sich, dass die langfristiger genehmigt würde, um besser planen zu können.
Dank ihrer so kontinuierlich Hand in Hand agierenden Besuchsgruppe schaut sie positiv in die Zukunft. Eine Zukunft, in der sie mit ihrem Team noch viele betroffene Menschen erreichen möchte, um ihnen wieder mehr Lebensfreude und den Erhalt einer bestmöglichen Alltagskompetenz zu vermitteln.
Informationen und Anfragen Mo. und Di. 9-13 Uhr unter Telefon 030 77 00 00 22 oder E-Mail haltestelle@diakonie-lankwitz.de
Ähnliche Haltestellen-Einrichtungen gibt es in den jeweiligen Bezirksteilen in Berlin und Brandenburg, siehe www.diakonie-haltestelle.de
Jacqueline Lorenz
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