Erschienen in Gazette Charlottenburg August 2017
Als im Jahr 1354 der Ort Schmargendorf erstmals urkundlich erwähnt wurde, war die gesellschaftliche Stellung der Frau noch deutlich unter der des Mannes angesiedelt.
Auch noch Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts, als die Einwohnerzahl des bäuerlichen Ortsteils bereits auf 12.000 angestiegen war und zusehends als Berliner Erholungsvorort mit Grunewald und Bahnanschluss an Bedeutung gewann, hatten Frauen kaum eigene Rechte.
Doch starke Frauen, die für ihre Ziele kämpfen, gibt es zu jeder Zeit.
Einigen von ihnen, die nicht nur in Schmargendorf unvergessen blieben, setzt eine starke Frau unserer Tage ein symbolisches Denkmal: die Schriftstellerin, Philosophin und Stadtführerin Jenny Schon gibt ebenso spannende wie lehrreiche vor-Ort-Einblicke in das Leben starker Frauen in Schmargendorf mit ihrer kunst- und kulturorientierten Führung, die sie an der um 1350 erbauten Dorfkirche Schmargendorf auf dem Friedhof Schmargendorf beginnen lässt.
Vorbei an halb verfallenem Mausoleum und dem Grab von Max Pechstein führt der Weg an das Ehrengrab der ersten deutschen Fliegerin Melli Beese (1886 – 1925). Als erste deutsche Frau drang sie mit dem Erwerb des Pilotenscheins Nr. 115 im Jahr 1911 in die Männerdomäne Fliegen ein, stellte 1912 mit 825 Metern den Höhenweltrekord für Frauen auf und gründete im selben Jahr die Flugschule „Melli Beese GmbH“. Sie konstruierte, baute und flog Motorflugzeuge, bis sie sich am 21. Dezember 1925 erschoss.
Amelie Hedwig Boutard-Beese wurde als Architekten-Tochter bei Dresden in wohlhabenden Verhältnissen geboren. Da Frauen zu dieser Zeit in Deutschland noch das Studium verwehrt wurde, studierte sie im weltoffenen Schweden von 1906 bis 1909 Bildhauerei, interessierte sich aber bereits früh für Fluggeschichte, Mechanik und die Brüder Wright. Nach Deutschland zurückgekehrt und nach einer Odyssee durch die ausbildenden Fluggesellschaften erhielt Melli Beese schließlich Flugstunden auf dem Flugplatz von Johannisthal. Sie wurden von der Männerwelt boykottiert, an ihrer Maschine, der Rumpler-Taube- wurde manipuliert, sie durfte nur bei absoluter Windstille fliegen – aber dennoch oder gerade deshalb wurde sie die erste Motorfliegerin Deutschlands mit Pilotenschein. Bei der Gründung ihrer Flugschule unterstützte sie ihr Teilhaber und späterer Ehemann, der Konstrukteur Charles Boutard. Sie, die Bildhauerin, entwarf, konstruierte und schuf nun einen neuen Flugzeugtyp, die „Beese-Taube“. Durch die Heirat französische Staatsbürgerin geworden, wurde ihr der Ausbruch des 1. Weltkrieges zum Verhängnis: Ihre Flugschule wurde geschlossen, die Produktion eingestellt, Melli verhaftet. Die Ehe ging in die Brüche. Nach dem Krieg ging sie nach Berlin, um ihre Pilotenlizenz zu erneuern. Nach einer Bruchlandung, bei der sie unverletzt blieb, das Flugzeug aber vollständig zerstört wurde, wählte die selbstbewusste, aber von Depressionen gequälte Frau im selben Jahr den Freitod.
Nach dieser beeindruckenden Lebensgeschichte geht es weiter durch die Misdroyer Straße, in deren Nummer 1 Rainer Maria Rilke ein halbes Jahr wohnte. Es geht vorbei an ehemaligen, nach 1900 erbauten Ackerbauernhäusern mit Gärtchen an der Rückseite. Sie entstanden, nachdem die dort liegenden Felder zur Bebauung freigegeben worden waren: Um einen Dorfanger, der als sozialer Treffpunkt diente, standen die Wohnhäuser und das (bis heute) weinumrankte Pfarrhaus, auch einen Teich besaßen die Schmargendorfer damals. Nur wenige Remisen, die heute gerne von Künstlern in Schmargendorf genutzt werden, erinnern noch an diese Zeit. Für die mit der Bahn angereisten Sommerfrischler, die den dicht am Grunewald liegenden Ort Schmargendorf eroberten, dienten die Remisen als Übernachtungsstätten und brachten den bescheiden lebenden Bauern ein deutliches „Zubrot“; für die Bauersfrauen bedeutete das jedoch noch mehr Arbeit. Die Straßennamen dieser Gegend, die die Namen von Ostseeorten tragen, sollten den Besuchern – psychologisch geschickt – das Gefühl eines unbeschwerten Feriendaseins an frischer Seeluft vermitteln.
In der Heiligendammer Straße 10 fällt ein gelbes Bürgerhaus aus damaliger Zeit ins Auge. Doch eine Erinnerungstafel sucht man vergebens.
Das fortschrittliche Fräulein Marie Blankenhorn, Lehrerin, mietete das Haus Raum für Raum, mit dem Ziel, von hier aus das erste Mädchen-Lyzeum zu gründen. In den Räumen ihrer privaten Höhere-Töchterschule unterrichtete sie die erste Mädchengeneration, die sie in ihren Elternhäusern zuvor aufgesucht und für ihre Idee begeistert hatte. Erschienen anfangs von den 12 angemeldeten Mädchen nur vier zum Unterricht, änderte sich das bald. Mit bereits 150 Schülerinnen wurde das 1911 auf Beschluss der Schmargendorfer Gemeinde erbaute Goethe-Lyzeum Schmargendorf für Mädchen 1913 eingeweiht, in dem heute die Carl-Orff-Grundschule ihren Sitz hat. So brachte Marie Blankenhorn als starke Frau ein gutes Stück voran, was in der Weimarer Republik seine Fortsetzung fand: die Möglichkeit, dass Mädchen ungehindert Abitur machen und ein Studium absolvieren können.
Die Heiligendammer Straße in Richtung Wilder Eber geht es weiter, vorbei an der ehemaligen „Villa Lichtblick“, die als erste Auffangstelle geschlagener Frauen in Erinnerung geblieben ist und heute eine Yogaschule beherbergt. Vorbei am Platz des Wilden Eber, um den sich zahlreiche Geschichten ranken und in dessen Umkreis einst Ausflugslokale wie das Forsthaus Schmargendorf die Sommerfrischler erwarteten, führt Jenny Schon über die Warnemünder Straße. Auf deren Mittelstreifen erinnern noch letzte Nadelbäume daran, dass bis hierher einmal der Grunewald reichte.
Zurück geht es über Selchowstraße und Hundekehlestraße. In der Nummer 11 wohnte Rainer Maria Rilke, wie eine Tafel besagt. Im Hof versteckt sich der Rilke-Brunnen unter Efeu. Mit ihm lebte hier die sich selbstverwirklichende, starke Lou Andreas-Salomé (1861-1937), Schriftstellerin und Psychoanalytikerin, deren schillerndes Leben hier nur angedeutet werden kann: Studium der Archäologie, Religion und Geschichte, Kontakte zu Frauenrechtlerin von Meysenbug, Freundschaft zu Paul Rée und Friedrich Nietzsche, eine unerfüllte Ehe mit Friedrich Carl Andreas, Kontakte zum Berliner Künstlerkreis.
Lou wird – wie ihr späterer Lehrer Sigmund Freud sagt – „Rilkes Muse und sorgsame Mutter“, die mit ihm kurze Zeit auch in der Schmargendorfer Hundekehlestraße 11 lebt. Auf der Erinnerungstafel am Haus aber fehlt ihr Name.
Jenny Schon lässt diese besonderen Frauen auf der Führung auferstehen und ergänzt ihre Gruppe wenig später in der Reichenhaller Straße mit Blick auf die Friedrichshaller Straße um zwei weitere starke Frauen, die in Schmargendorf Station machten:
Lilly Wust (1913-2006), Bundesverdienstkreuzträgerin und Felice Schragenheim, deren Liebesgeschichte Erica Fischers Buch „Aimée und Jaguar“ und der daraus resultierende Film, der 1999 auf der Berlinale vorgestellt wurde, erzählen: Von der Hausfrau Lilly, die ihren Mann und vier Kinder verlässt, als sie sich 1942 in die Jüdin Felice verliebt, die mit ihr zusammenzieht und sie mit drei weiteren Jüdinnen vor der Gestapo versteckt. Felice wird dennoch verschleppt und im KZ ermordet.
1981 erhielt Lilly Wust das Bundesverdienstkreuz am Bande und wurde 1999 als Gerechte unter den Völkern geehrt.
Die tragische Geschichte dieser Frauen vor Augen geht es über den Kolberger Platz zur Breite Straße und dem Ausgangspunkt der Führung zurück.
Ein lohnender Zwischenstopp im Atelier der Künstlerin Sabine Gaudszun in der Breite Straße 20 zeigt eine starke Frau von heute mit ihrer beeindruckenden Objekt- und Collagenkunst auf einem der schönsten noch bestehenden Höfe Schmargendorfs, die Geschichten zu erzählen wissen. Weitere „starke Frauen“ aus seiner Sicht präsentiert Künstler Ulrich Stoppel schräg gegenüber in der Breite Straße 40 in seiner Galerie und schließt damit ihren Kreis.
Mehr zum Thema: Die nächste Schmargendorf-Führung mit Jenny Schon startet am 16. August 2017 um 14 Uhr. Anmeldung unter Telefon 030 – 892 13 38.
Weitere Themen-Führungen mit Jenny Schon unter www.jennyschon.de .
Jacqueline Lorenz
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