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Flucht von Berlin nach Stockholm

Nobelpreisträgerin Nelly Sachs wurde in Schöneberg geboren

Gedenkstein für Nelly Sachs in dem nach ihr benannten Park.
Gedenkstein für Nelly Sachs in dem nach ihr benannten Park.
Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau Juni 2020
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In der Schöneberger Maaßenstraße 12 wurde am 10. Dezember 1891 ein kleines Mädchen geboren, das den Namen Leonie bekam, später aber nur noch Nelly genannt wurde. Dass der Tochter eines Fabrikanten ein schweres Schicksal, aber auch später Ruhm zuteilwerden würde, ahnte damals noch niemand.

Schon früh wusste sie, dass sie Tänzerin werden wollte. Doch auch zur Schriftstellerei fühlte sich Nelly, die zunächst zu Hause unterrichtet wurde und anschließend eine Schule für höhere Töchter besuchte, hingezogen. Als sie zum 15. Geburtstag Selma Lagerlöfs Buch „Gösta Berling“ geschenkt bekam, wandte sie sich verstärkt dem Schreiben. Mit 17 soll sie ihre große Liebe kennengelernt haben, einen geschiedenen Mann. Ihr Vater war davon nicht begeistert und verbot ihr jeden weiteren Kontakt. Doch Nelly hielt die Beziehung mit ihm, dessen Namen sie nie verriet, über viele Jahre aufrecht. Die Goldenen Zwanziger mit dem ausschweifenden Leben verbrachte die Familie zurückgezogen. Die Mutter wurde von Nelly heiß geliebt, der Vater respektiert und verehrt. Nellys erstes Buch „Legenden und Erzählungen“ erschien 1921. Sie schickte ein Exemplar an die von ihr bewunderte Selma Lagerlöf. Die Antwort der schwedischen Dichterin, sie selbst hätte es nicht besser machen können, hütete Nelly die Jahre hindurch wie einen Schatz. 1929 wurden ihre Gedichte erstmals in Zeitungen veröffentlicht.

Der Tod ihres Vaters im Jahr 1930 bedeutete einen großen Einschnitt in der Familie. Sie zogen von Schöneberg ins Hansaviertel, wo die Mutter Eigentümerin eines Miethauses war. Sie traf sich weiterhin mit ihrer heimlichen großen Liebe. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten musste Nelly sich erstmals damit auseinandersetzen, dass sie Jüdin war. Religion hatte in dem Leben ihrer Familie bis dahin keine Rolle gespielt. Schwere Zeiten brachen an. Nellys Geliebter – von dem sie nur preisgab, dass er weder Nazi noch Jude war – engagierte sich im Widerstand. Er wurde gefasst und von der Gestapo gefoltert. Er soll 1940 – in dem Jahr, in dem Nelly und ihre Mutter nach Schweden flohen, in einem KZ ermordet worden sein. Die Papiere für die Einreise nach Schweden und die Ankündigung für den Transport in ein Lager kamen fast zeitgleich an. Ein wohlgesonnener Gestapo-Mitarbeiter riet Nelly, das Schreiben über den Abtransport zu vernichten und schnell zu fliehen. Gemeinsam mit ihrer Mutter nahm sie eines der letzten Flugzeuge nach Stockholm.

Sogar Selma Lagerlöf hatte sich dafür eingesetzt, dass Nelly nach Schweden ausreisen konnte. Die schwedische Schriftstellerin, die als erste Frau den Nobelpreis für Literatur erhielt, starb noch vor Nellys Ankunft in Stockholm. Nellys Freundin Gudrun Dähnert konnte erreichen, dass sich der schwedische Prinz Eugen Bernadotte an die Botschaft wandte, damit Familie Sachs einreisen konnte.

Nachdem Nelly und ihre Mutter zunächst getrennt untergebracht wurden, gelang es ihnen später eine Einzimmerwohnung zu bekommen. Die gutbürgerliche Existenz war Vergangenheit. Nelly arbeitete in einer Wäscherei und die Frauen waren ansonsten auf Zuwendungen durch die jüdische Gemeinde angewiesen. Nelly lernte schwedisch und verdiente sich durch Übersetzungen etwas Geld dazu. So bekam sie Kontakt zur schwedischen Literaturszene, in der sie sich auf Anhieb wohl fühlte. Als ihre Mutter 1950 starb, war das ein schwerer Schlag für Nelly. Im Jahr 1953 nahm sie endgültig die schwedische Staatsbürgerschaft an. In der Nachkriegszeit beschäftigten sich ihre Veröffentlichungen mit der Unmenschlichkeit, die in den Konzentrationslagern stattfand. Ihre Werke wurden in der DDR veröffentlicht. In der Bundesrepublik blieb Nelly Sachs weitgehend unbekannt. Erst Ende der 1950er-Jahre wurde sie auch dort entdeckt. 1960 kehrte sie erstmals nach Deutschland zurück und nahm den Droste-Preis entgegen. Die Wirkung der Reise in ihre alte Heimat löste eine so schwere psychische Krise aus, dass sie nach der Rückkehr nach Stockholm für drei Jahre in eine Nervenheilanstalt musste. Sie reiste 1965 erneut nach Deutschland, als ihr der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen wurde. 1966 dann ihr größter Erfolg: Nelly Sachs bekam gemeinsam mit Samuel Joseph Agnon den Literaturnobelpreis verliehen. 1970 starb Nelly Sachs in Stockholm.

An der Maaßenstraße 12 und im Hansaviertel erinnert je eine Gedenktafel an Nelly Sachs und 1989 wurde der Park an der Dennewitzstraße nach ihr benannt.

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