Gazette Verbrauchermagazin

Digitalisierung von Verwaltung und BVV

Die Bezirksverordnetenversammlung (BVV) Steglitz-Zehlendorf diskutiert

Erschienen in Gazette Steglitz und Zehlendorf Juli 2020
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Seit Jahren gibt es zahlreiche Projekte für eine stärkere Digitalisierung der Berliner Verwaltung, die bisher allerdings in vielen Fällen nur mit Verzögerung in Angriff genommen wurden. Die Krise der Coronavirus Pandemie der letzten Monate offenbarte nun die vorhandenen Defizite in dieser Frage. Es mangelt an der technischen Ausstattung, der Leistung der öffentlichen Netze und an notwendigen gesetzlichen Regelungen. Im Folgenden nehmen die Fraktionen in der Bezirksverordnetenversammlung Steglitz-Zehlendorf zu diesem Thema Stellung.

CDU-Fraktion

Wer einen internationalen Führerschein benötigt und noch die alte graue „Pappe“ besitzt, erlebt im Bürgeramt eine Sternstunde: ein neuer Kartenführerschein muss her, fälschungssicher mit digitaler Unterschrift und biometrischem Foto, die Pappe wird zum Museumsstück gestempelt. Mit der neuen Karte muss man dann ein weiteres Mal ins Bürgeramt. Und dort tragen Mitarbeiter alle Daten, per Hand und mit Stift, vom neuen Kartenführerschein auf – genau – eine graue Pappe ein.

Corona legt die digitalen Schwächen der Verwaltung offen. Das rot-rot-grüne Berlin hat ein „E-Government-Gesetz“ aber keine digitale Akte. Zwar kann man online vieles beantragten, das meiste ist jedoch nicht praxisrelevant. Estland kann es: wird ein Kind geboren, entsteht die Geburtsurkunde automatisch, niemand muss auf ein Amt, keiner muss ein Formular ausfüllen und mehrwöchige Wartezeiten, wie in Steglitz-Zehlendorf, gibt es auch nicht. Und das Kindergeld wird automatisch in die Wege geleitet.

Verwaltung ist zu oft mit sich selbst beschäftigt. Ein „Neustaat“ muss her. Die CDU hat dazu mehr als 100 Vorschläge gemacht. Setzen wir sie in Berlin um!

Bernhard Lücke

SPD-Fraktion

Die aktuelle Corona-Krise macht uns die herausragende Bedeutung einer flächendeckenden und tiefgreifenden Digitalisierung von Verwaltung anschaulich. Im Arbeitsalltag des 21. Jahrhunderts müssen alle Mitarbeitenden der modernen Verwaltung sowie die Leitungsebene über die Möglichkeit verfügen, jedes wichtige Anliegen aus der Ferne zu bearbeiten und relevante Entscheidungen ohne ständige Präsenz in ihrem Büro zu treffen. Vergangene Monate haben uns gezeigt: der Nachholbedarf in der Verwaltung ist hier in allen Teilbereichen immens, angefangen mit mobilen Geräten und bis zu sicheren Telekommunikationskanälen. Die SPD-Fraktion widmet sich konsequent dieser Problematik und stellte sie im Mittelpunkt ihrer Großen Anfrage in der BVV im Mai.

Auch die Bezirksverordneten haben im Rathaus Zehlendorf trotz eines Prüfantrags, von der SPD-Fraktion initiiert und im Vorjahr einstimmig beschlossen, immer noch keinen gesicherten Internetzugang per WLAN und müssen auf private Alternativen zurückgreifen. Das kann kein Dauerzustand in der BVV-Arbeit sein!

Digitalisierung bietet uns enorme Chancen, alle Prozesse effizienter zu gestalten. Steglitz-Zehlendorf darf diese Entwicklung nicht verpassen!

Dmitri Stratievski

B‘90/Grünen-Fraktion

Bereits vor der Coronakrise war die Digitalisierung der Verwaltung die große Mammutaufgabe unserer Zeit. Die Krise führt uns vor Augen, wie fatal es ist, dass wir auf diesem Gebiet zu langsam voranschreiten. Noch immer sind zu viele Verwaltungsaufgaben nicht digital möglich, sei es durch fehlende Dienstvereinbarungen oder durch die schleppende Einführung des Berlin-PCs. Wer funktionierende Digitalisierung will, muss sie bezahlen. Stattdessen fehlten der zuständigen Abteilung 45 Mio. Euro im Jahr, um bei der Umsetzung zügig voranzukommen. Es ist für uns Bezirkspolitiker*innen frustrierend zu hören, dass die Einführung des standardisierten Berlin-PCs „nicht mehr planbar“ ist und die Einführung der längst überfälligen E-Akte in 2023 auf der Kippe steht. Es ist den fleißigen Mitarbeiter*innen in der Verwaltung zu verdanken, dass wir dennoch einen akzeptablen Service für die Bürger*innen in Steglitz-Zehlendorf zur Verfügung stellen können, auch während der Krise. Aber die Erkenntnisse der Krise machen Hoffnung: An vielen Einrichtungen werden nun Lösungen forciert. Wir werden dafür sorgen, dass wir das wachsende Know-how zusammenbringen und nutzen!

Lukas Uhde

AfD-Fraktion

Die Technikfeindlichkeit ist mit den 68ern in Deutschland tief verwurzelt. Ein Fanal war das Aus der Magnetschwebebahn Transrapid im Jahr 2000. Es wurde von der damaligen rot-grünen Bundesregierung betrieben und gefeiert. Innovation braucht das Land nicht. Noch 2013 postuliert Kanzlerin Merkel „das Internet ist Neuland“. Statt eines Innovationsschubs im Land werden Leistungsträger durch höchste Abgaben zur „Republikflucht“ gedrängt. Und nun Digitalisierung? Weder Politik noch Behörden haben Ahnung und per se weder Innovationsdruck noch Fachleute oder Geld.

Die Praxis schaut so aus: Wer Aufträge vergibt, hat keinen Schimmer, und der Auftragnehmer, der billigste, gibt vor Schimmer zu haben. Es gibt zahllose Probleme, eine Menge Frustration – aber wenige verdienen prächtig. Nach diesem Prinzip bauen Altparteien Flughäfen und Bahnhöfe. Digitalisierung? Wir seien technisch „kurz hinter der Karteikarte“, so eine Bezirkspolitikerin über die die Digitalisierung der Berliner Verwaltung (Tagesspiegel vom 6.4.20). Deutschland hat Fachleute für Gender-Toiletten und die Bekämpfung von Kritikern und Oppositionellen. Das muss reichen.

Peer Lars Döhnert

FDP-Fraktion

Wird ein mangelhafter Prozess digitalisiert, erhält man einen digitalen mangelhaften Prozess. Digitalisierung wird in der Verwaltung meist als technische Aufgabe verstanden. Natürlich müssen die technischen Voraussetzungen gegeben sein. Als Freie Demokraten (FDP) haben wir stets eine Ausstattung eingefordert, die nicht zuletzt in Zeiten der Pandemie digitales Arbeiten erst möglich macht. Auch für ein öffentliches Streaming der BVV-Sitzungen sind wir intensiv eingetreten. Allerdings haben die Bedenken der Verantwortlichen bislang einen Durchbruch verhindert. Nun offenbart Corona den Rückstand schonungslos. Weder das Abfordern einfachster Bürgerdienste, noch ein Arbeiten im Homeoffice mit gesichertem Zugriff auf behördliche Datenbestände oder das Abhalten von Versammlungen mit Hilfe von Videokonferenzen, ist in Verwaltung oder BVV möglich. In den Köpfen der Verantwortlichen ist das immer noch reine Utopie. Dabei wäre die Technik relativ rasch einsetzbar. Es fehlt jedoch die Bereitschaft zum Umdenken. Ohne Prozessoptimierung und Servicebewusstsein bleibt eben auch ein digitaler Prozess am Ende immer ein mangelhafter Prozess.

Andreas Thimm

Linksfraktion

Digitalisierung von Verwaltung und BVV „Wir schreiben das Jahr 2020 – das Steglitz-Zehlen-Dorf, unendliche Weiten….“ – und digitale Ödnis! Nach nunmehr 14 Jahren schwarz-grüner Zählgemeinschaft stellen wir fest: Auch auf diesem Gebiet weitgehend Stillstand! Home-Office? Technische Möglichkeit zu Videokonferenzen? Livestream der BVV-Sitzung? Obwohl beide Fraktionen sich auch im dritten „Koalitionsvertrag“ 2016 für eine moderne Verwaltung auf dem neuesten Stand der Technik ausgesprochen haben. Aber Papier ist bekanntlich geduldig. Bis zum Ende der Legislatur sind es ja auch noch ein paar Monate. In der Zwischenzeit wird es für die Zählgemeinschaft genügend Entschuldigungen geben („Der Senat ist schuld!“), warum sowohl die Verwaltung – als auch die BVV-Infrastruktur digital derart schlecht aufgestellt sind. Wir wären schon froh, wenn die Weigerung aufgegeben würde, die Audioprotokolle der BVV-Sitzungen zu veröffentlichen. Alles spricht für eine Total-Verweigerung bezogen auf Transparenz gegenüber den Bürger*innen – von Barrierefreiheit beim Zugang zu Verwaltung für Mitarbeitende und sogenannte Kund*innen (die bekanntlich König*innen sein sollten) ganz zu schweigen.

Gerald Bader

Titelbild

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