Erschienen in Wannsee Journal August/September 2020
Als unsere Leserin mit ihrer Familie am späten Abend aus dem Fenster ihres Einfamilienhauses in Wannsee blickte, sahen sie Erstaunliches: Obwohl es windstill war, bewegten sich die Zweige im Wipfel des Kirschbaums auffällig hin und her. Die Hausbewohner vermuteten erst große Vögel, da sich auch Tauben regelmäßig im Garten aufhielten. Sie beobachteten das Schauspiel, um einen Blick auf die vermeintlichen Vögel zu erhaschen. Doch es zeigten sich weder Schnabel noch Federn – dafür ragte plötzlich ein Paar schwarzer Ohren zwischen den Blättern empor. Das Gesicht mit der charakteristischen Maske folgte. Ein Waschbär saß im Kirschbaum und naschte die noch unreifen Früchte. Schnell die Kamera gezückt um ein paar Fotos von dem Besucher zu machen, der dank seiner Tarnung kaum zu sehen war. Nach einiger Zeit war dem Waschbären langweilig, vielleicht war er auch satt. Er kletterte vom Baum, um ganz gemächlich durch die Hecke zum Nachbargrundstück zu verschwinden. Die Hausbewohner sahen an den folgenden Abenden immer mal wieder hinaus, aber der Waschbär blieb verschwunden.
Bis er eines Tages wieder kam. Aber nicht alleine. Offenbar war der Waschbär eine Waschbärin, die mit drei Jungen im Schlepptau Kurs auf die Kirschen nahm. Die vier Waschbären kletterten auf den Baum – aber die „Alte“ kam nach kurzer Zeit wieder herunter und verschwand wiederum auf dem Nachbargrundstück. Die Jungen blieben im Baum, wo sie etwas jämmerlich fiepten. Nach ca. zehn Minuten kam die Waschbärin wieder – mit zwei weiteren Jungen. Sie hatte den Rest ihrer Kinder offenbar nachgeholt. Die Familie war wieder komplett und naschte gemeinsam. Als sie genug hatten, kletterten alle gemeinsam vom Baum, um auf dem bekannten Weg nach Hause zu gehen. Danach wurden sie nicht mehr gesehen. Vielleicht hatten sie durch die vielen Kirschen doch Bauchweh bekommen.
Ursprünglich sind Waschbären in Nordamerika heimisch. Nach Deutschland kamen sie erstmals im Jahr 1934, als zwei Pärchen am hessischen Edersee ausgesetzt wurden. Ziel war, „die heimische Fauna zu bereichern“. Die Brandenburger Waschbären stammen allerdings aus einer Pelztierfarm bei Strausberg, wo 1945 viele Tiere ausbrachen. Weitere ausgesetzte und freigelassene Tiere folgten, die hierzulande beste Bedingungen vorfanden und sich fleißig vermehrten. Mittlerweile gelten Waschbären als unerwünschte Spezies. Neben geräuberten Obstbäumen und geleerten Mülltonnen sind sie unbeliebte Hausgenossen, die sich insbesondere in Kassel auf Dachböden breit gemacht haben. Außerdem tragen sie zu Brutverlusten bei Vögeln bei. Nicht nur, weil Eier und Küken ihren Speiseplan bereichern, sondern weil sie auch Brutplätze zu ihren eigenen Schlafplätzen erklären und die Vögel so zur Aufgabe ganzer Brutkolonien zwingen.
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