Erschienen in Gazette Charlottenburg Januar 2021
Kerzengerade bewacht ein auf die Fassade gebannter preußischer „Langer Kerl“ das weltweit einzige Ladengeschäft seiner Art. – Als wisse er genau, welch besondere Kleinode es dort drinnen im Geschäft von Hans-Günther Scholtz, einem Eldorado für Sammler, Geschichts-, Miniatur- und Technikfreunde, auf drei Etagen zu schützen gilt: Das Preußische Bücherkabinett mit Tausenden an Fachbüchern und Videos zur Militärgeschichte, Modellbausätze und -zubehör, Fertigmodelle – und die in die Million gehenden bemalten und unbemalten Zinnfiguren. Sie sind es in erster Linie, die nach Betreten des Traditions-Ladengeschäfts in der Knesebeckstraße 88 alle Blicke auf sich lenken: In über 1.000 Serien und zu unterschiedlichsten Themen präsentieren die kleinen flachen oder plastischen Kunstwerke Geschichte, wie sie anschaulicher und präziser kaum sein kann, von den Dinosauriern bis zur Gegenwart, von beidseitig bemalter Standfigur bis zum Fensterbild. In der Werkstatt hinter dem Laden erstehen sie in Zinn-Blei-Antimon-Legierung in schieferne, nicht selten jahrzehntealte rußgeschwärzte Formen gegossen: Originalgetreue Nachbildungen ihrer kulturhistorischen Vorbilder, bis auf die Zahl der Uniformknöpfe in jeder Einzelheit dem Original präzise nachgestaltet und bemalt, warten sie in Vitrinen und deckenhohen Regale auf Liebhaber und Freunde der Miniatur. Soldaten, Feldherren, Könige, aber auch Tiere, Bäume und gesellschaftliche Darstellungen.
Mit ihrem Angebot stellen Hans-Günther Scholtz und sein Team zurückliegende Ereignisse dar und tragen damit maßgeblich zum Bewahren und Veranschaulichen von Geschichte in all ihren Facetten bei, wie sie nur zu oft unbeachtet bleibt. Vergangene Zeiten könne man nicht einfach aus der Geschichte ausklammern, ist sich Scholtz sicher. Nicht vor der Geschichte zu kapitulieren, sondern sie klar und aus ihrer Zeit heraus anderen verständlich zu machen, ist eine wichtige Aufgabe, der Hans-Günther Scholtz sich mit seinem Traditionshaus stellt.
„Berliner Zinnfiguren“ wird heute in zweiter Generation von Hans-Günther Scholtz, Sohn des Gründers, geführt. 1934 hatte sein Vater, Werner Scholtz, mit der Herausgabe eigener Zinnfiguren begonnen. „Die zu seiner Zeit erhältlichen Figuren waren ihm zu ungenau“, erklärt sein Sohn heute. In der Kaiser-Friedrich-Straße eröffnete der Vater 1934 „Werner Scholtz, Fachgeschäft für historische Zinnsoldaten“. Kriegswirren und zweimalige Ausbombung führten den Weg des Geschäfts über den Potsdamer Platz schließlich in die Knesebeckstraße, wo das Ladengeschäft seit 1968 seinen Sitz hat.
Hans-Günther Scholtz wurde 1947 geboren. „Meine Großmutter erzählte spannende Geschichten, die sie mit Zinnfiguren darstellte. Das hat mein Geschichtsinteresse geweckt“, erinnert er sich. Radio und Fernsehen gab es Daheim nicht. Die Figuren vor sich, saß die Familie manchen Abend um den Tisch. Das erste Geld für den sonntäglichen Kinobesuch verdiente sich der Sohn schließlich mit dem Bemalen von Zinnfiguren im väterlichen Betrieb. 1976, nach dem Tod des Vaters, übernahm er später den Laden in der Knesebeckstraße.
Im 1892 errichtete Haus hat der Traditionsbetrieb den passenden Rahmen gefunden: Stuck an den Decken und geschichtsträchtige Kacheln, die hinter Regalen verborgen hier und da hervorblicken, erinnern an die Zeit vor 1913. Da hatte der Bauherr, ein Fleischermeister, sein Metzgergeschäft in den Räumen untergebracht, wo heute die Zinnfiguren von damals erzählen.
Viele der alten Schiefer- Gussformen für Zinnfiguren verschiedenster Motive, von denen einige aus der Zeit um1880 stammen, werden von Hans-Günther Scholtz noch heute genutzt, mindestens 10.000 Stück lagern in Regalen und im Keller. Weitere Formen kommen stets dazu, von ihm selbst als gelernter Graveur, der seine Ausbildung an der Bundesdruckerei gemacht hat, mit neuen Motiven gefertigt.
Längst gibt es den Ausbildungsberuf des Zinngießers nicht mehr. Doch in der Charlottenburger Werkstatt werden auch heute noch dreimal pro Woche per Handabguss Zinnfiguren gegossen. Das Grundmaterial dafür kommt in Barrenform von der Metallhütte. Feldzüge, ein ganzer Zoo, afrikanische Tiere, Bäume jeder Art und Jahreszeit oder Oster- und Weihnachtsserien entstehen daraus, detailreich und –getreu angemalt und in kleinen Szenen zusammengestellt: Da sitzen indianische Späher auf einem Baum, während andere am Boden lauern, Marilyn Monroe lockt mit filmreif hochgewehtem Rock amerikanische Soldaten, und Napoleon reitet stolz durch seine Armee.- Das Angebot und der Kontrast könnte größer nicht sein. Es gibt nichts, was es nicht gibt. Einmal habe sich ein Mitarbeiter einen Scherz erlaubt und einem Neandertaler eine Armbanduhr an den zinnernen Arm gemalt, erzählt Scholtz. Erst sei das niemandem aufgefallen, dann aber das Gelächter groß gewesen.
Online-Bestellungen an das Ladengeschäft kommen aus der ganzen Welt, und der weltweit einzigartige Jahreskatalog mit aktuellen Angeboten aus Scholtzens Modellbau-Bereich, Bücher- und Zinnfiguren-Kabinett sowie Antiquariat ist u. a. an Bahnhofskiosken erhältlich. Filmfirmen und Museen zählen ebenso zum festen Kundenstamm der „Berliner Zinnfiguren“ wie Sammler und Touristen, für die der Laden immer wieder ein ganz besonderes Berliner Highlight ist. Das Traditionshaus nimmt alte Figuren an, restauriert und repariert sie aber auch bei Bedarf und auf Anfrage.
Einzelne Zinngießer gibt es noch im Süden Deutschlands, mit denen Scholtz sich austauscht, doch sein Ladengeschäft ist das Einzige.
Eine ganz besonderes, über 10.000 Teile umfassendes Auftrags-Exponat aus dem Hause „Berliner Zinnfiguren“ kann im Deutschen Zinnfiguren-Museum im Fränkischen Kulmbach auf der Hohenzollernfestung Plassenburg bewundert werden: Als weltweit größtes Diorama mit über 20.000 Zinnfiguren erzählt dort das Schaubild vom schwärzesten Tag Kulmbachs. Am 26. November 1553 hatten Truppen aus Bamberg, Würzburg, Nürnberg und deren Verbündete die unter der Regierung von Markgraf Albrecht Alcibiades stehende Stadt mitsamt der stolzen Plassenburg zerstört.
Seit 1550 hatte die Zinnfigur von Nürnberg und Fürth ausgehend immer mehr Raum in gesellschaftlichen Leben eingenommen. In den Kinderzimmern spielten die Buben mit Zinnsoldaten Schlachten nach, Mädchen bekamen „rollengemäß“ Märchenfiguren und Tiere zugeteilt. Die flachen Figuren nahmen als „Lernspielzeug“ wenig Platz ein, waren meist nur einseitig bemalt oder gänzlich unbemalt. Mit den Jahren wurden die Figuren plastisch ausgeformt, und ab etwa 1920 erhielten „kulturhistorische Zinnfiguren“ aus allen Themenbereichen als Sammelobjekt für Erwachsene Bedeutung.
Hans-Günther Scholtz weiß im Betrieb hinter sich ein engagiertes, eingespieltes Team. Die meisten Kollegen sind schon jahrelang dabei, motiviert und mit viel Liebe zur Materie und zum Detail. Als ehemaliger Fluglotse, Journalist, Werkzeugmacher oder Landwirt haben sie hier gefunden, was ihnen im alten Beruf vielleicht gefehlt hat. Wenn er sich einmal aus dem Alltagsgeschäft zurückzieht, weiß der Chef den Laden bei ihnen in guten Händen. Doch noch ist er, der mit dem Fahrrad immer neue spannende Winkel erkundet und sich mit Lesen neugierig hält, mit viel Energie im Geschäft dabei.
Gerade in diesen Tagen bereitet dem Geschichtsfreund seine Arbeit besondere Freude. „In Corona-Zeiten sind Menschen glücklicher, die ein Hobby und damit einen Lebensinhalt haben“, weiß er und erklärt weiter: „Darin können wir sie mit unseren Angeboten an Zinnfiguren, Fachliteratur und Modellbau unterstützen und noch mehr Zufriedenheit schaffen.“ Dazu sei aber auch wichtig, sich stets die Neugier zu bewahren, rät er und weiß genau, wovon er spricht.
Weitere Informationen und aktuelle Öffnungszeiten unter www.zinnfigur.com
Jacqueline Lorenz
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