Erschienen in Zehlendorf Mitte Journal Februar/März 2021
Rund 2.000 wohnungslose Menschen wurden vor einem Jahr in Berlin gezählt. Doch die Dunkelziffer dürfte deutlich höher sein.
Um diese Menschen vor dem Kältetod zu bewahren, bieten die Bezirke in Kooperation mit sozialkompetenten Hilfsinstitutionen im Rahmen der Kältehilfe für die kalte Jahreszeit unterschiedliche Notübernachtungs-Einrichtungen und Nachtcafés.
Wie dringend notwendig derartige Angebote auch in privilegierten Wohnlagen sind, zeigt die Kältehilfe in Berlin-Wannsee. Die Wahl dieses Standortes, der anfangs von Kritikern als zu abgelegen angesehen wurde, erfolgte, da sich Obdachlose vermehrt unter den Wannseebrücken, den umliegenden Grünanlagen und im Grunewald aufhalten.
In der Bergstraße 4 in dem Jugendamt zugehörigen, vom Hochbauamt zügig instandgesetzten Räumlichkeiten des Bezirks, konnte daher auch in diesem Jahr wieder – nicht zuletzt durch den engagierten Einsatz der Sozialamt-Mitarbeiter – die Notübernachtung für die Wintersaison 2020/21 fristgerecht eingerichtet werden und ist von den Bedürftigen inzwischen sehr gut angenommen. Im Durchschnitt zu 70 Prozent sind die Betten jede Nacht belegt, je nach Außen-Temperatur. Eine solide Basis für den in diesem Jahr fortgeführten Entwicklungsprozess dieser Kältehilfe hatte in der vergangenen Saison als damaliger Verantwortlicher der Internationale Bund gelegt.
Von den ursprünglich 30 angebotenen Schlafplätzen für Männer und Frauen können jedoch aktuell coronabedingt in der Zeit zwischen November 2020 und März 2021 nur 18 Plätze – 14 für Männer, 4 für Frauen – genutzt werden. Mietfreier Betreiber und Zuwendungsempfänger in dieser Saison ist im Auftrag des Bereichs Soziale Wohnhilfe des Bezirksamt Steglitz-Zehlendorf die Deutsche Rote Kreuz Berlin Südwest gGmbH. Pro Schlafplatz und Person zahlt das Bezirksamt 34,85 Euro.
Punkt 19 Uhr klingelt es an der Tür der rund 400 Quadratmeter großen Notunterkunft, vor der in der neuen Sitzecke bereits sehnsüchtig auf Einlass gewartet wurde. Marco öffnet. Er ist einer von acht Vollkräften des DRK, die täglich zu zweit in zwei Schichten arbeiten: Von 17.30 – 23 Uhr und von 22.45 – 7.45 Uhr. Während der eine den Vorderbereich mit Empfang und Gemeinschaftsraum betreut, ist der andere im Schlaf-, Sanitär- und Küchenbereich tätig. Wer in welchem Zimmer schläft, bestimmen die Mitarbeiter aus der Erfahrung heraus, welche Zimmergenossen zueinander passen könnten.
Die beiden ersten Gäste dieses Abends sind verheiratet. Nach Fiebermessen und Händedesinfektion geht’s mit Maske in eines der Gästezimmer. Alkohol, Drogen, Waffen, Tiere, aber auch Diskriminierung und Gewalt müssen draußen bleiben, das verrät die Hausordnung. „Da wir ja durch die verschärfte Regelung derzeit 18 anstatt der sonst 30 Gäste pro Nacht aufnehmen dürfen, ist mehr Platz“, erklärt Marco. So haben die Beiden in dieser Nacht ein Zimmer mit zwei Einzelbetten für sich, während in „normalen“ Zeiten auch Doppelstockbetten zum Einsatz kommen. Sie sprechen und verstehen kein Deutsch, immer wieder verneigt sich die Frau, flüstert auf Russisch „Spasibo – danke“. Zuerst ist ihr Mann nach Berlin gekommen, dann, zwei Monate später, hat er seine Frau aus Russland nachgeholt, erfahre ich.
Die meisten Nachtgäste sind durchgefroren, haben den Tag auf der Straße verbracht. Im Gemeinschaftsraum warten in Thermoskannen warme Getränke. Aus hygienischen Pandemie-Gründen ist aktuell nur eine Dusche geöffnet. Bevor der nächste Gast sich unter der heißen Dusche aufwärmen kann, wird sie desinfiziert. Hygieneartikel wie Rasierer, Duschgel, Deo, Zahnbürste und Zahnpasta erhalten die Gäste von den Mitarbeitern, außerdem mindestens alle zwei Tage frische Handtücher. Frische Bettwäsche gibt es zweimal wöchentlich. Nachtruhe ist ab 22 Uhr.
Auf Tischen am Rand des Gemeinschaftsraumes liegen Bekleidungsstücke aus der Kleiderkammer des DRK bereit, Schlafanzüge, Pullis und Handschuhe. Alles muss warm sein, der Winter ist lang, kann hart sein und kennt kein Mitleid mit Obdachlosigkeit. Immer wieder Mangelware: Schlafsäcke und warme Unterwäsche. – Finanzielle Spenden an das DRK für die Anschaffung dieser stark benötigten und in den Kleiderkammern kaum vorhandenen Unterbekleidung sind willkommen.
In den Räumen der Nachtunterkunft besteht Masken- und Abstandpflicht, alle halten sich daran, nur hier und da muss Marco erinnern. Zwei osteuropäische Männer, die für diese Nacht dazugekommen sind, nehmen es mit Humor und legen für meine Kamera einen bühnenreifen „Distance-Dance“ aufs Parkett.
Wo sie den Tag verbracht haben, wissen die DRK-Mitarbeiter nur von wenigen Gästen, die überwiegend männlich sind: Da sind die zwei Obdachlosen, die in Zehlendorf-Mitte Zeitungen verkaufen, oder der Wohnungslose, der in der Innenstadt die oft so lang werdenden Tage verbringt. – Und dann sind da die zwei Frauen, die hier regelmäßig schlafen. Frauen von der Platte suchen sich sonst häufig eine reine Frauenunterkunft zum Übernachten, wie sie in der Lützowstraße in Berlin-Mitte eingerichtet ist, fühlen sich da sicherer, höre ich.
Die Notunterkunft Wannsee steht in regelmäßigem Kontakt mit den ebenfalls vom DRK betriebenen Wärmebussen, die bekannte Schlafplätze sowie S- und U-Bahnhöfe anfahren, dort Tee, Schafsäcke, Isomatten und warme Kleidung verteilen und nach telefonischer Rücksprache mit der Notunterkunft Wannsee, wenn dort Plätze frei sind, Nachtgäste von Fall zu Fall mit dem Bus vorbeibringen.
Überhaupt klappen Koordination und Austausch im Projekt Kältehilfe gut. Jeder, der dort arbeitet – egal ob ehrenamtlich oder angestellt – weiß nur zu gut, dass frierende Menschen schnelle und unkomplizierte Hilfe benötigen.
Nach dem Duschen in der Wannsee-Nachtunterkunft nimmt das Essen einen wichtigen Stellenwert bei den Menschen ein, denen die regelmäßige Mahlzeit zum seltenen Luxus geworden ist.
Ab 20 Uhr ist die Suppe oder der Eintopf warm. Besonders beliebt: Chili con Carne. „Bis 21.30 Uhr ist Essensausgabe, aber wenn mit dem DRK-Wärmebus jemand erst später eintrifft, bekommt er natürlich auch noch einen Teller Warmes und Brot“, betont der DRK-Mitarbeiter. In den Küchenregalen stehen Großpackungen mit Ravioli, Nudeln, Kaffee und Tee. Ehrenamtliche Helfer, die in der Küche und beim Servieren helfen, fehlen immer, sind hier herzlich willkommen. Beim Putzen der Zimmer helfen immer wieder auch Gäste freiwillig, betont Marco.
Es ist kurz vor 20 Uhr. An einem Tisch sitzt Frederik*. Auch er, höchstens 30 Jahre alt, wird die Nacht hier verbringen. Dass er morgen bereits um 7 Uhr die Nachtunterkunft verlassen muss, gefällt ihm wenig. „12 Uhr würde auch reichen. Wo soll ich denn den ganzen Tag hin?“ fragt er und erzählt, wie er vor Kurzem nach Berlin kam. Seine gewählte Ausdrucksweise fällt auf, höflich und gepflegt wirkt er, aber auch psychisch labil und fast ein wenig zerbrechlich. In Bielefeld hatte der Kranken- und Altenpfleger eine Wohnung und einen Job. Irgendwann gab es Ärger mit dem Vermieter, Frederik ließ alles zurück und fuhr mit dem Zug nach Berlin. Nun irrt er am Tag durch die Straßen. Beim Sozialamt war er, aber als er mit 20 Leuten in einer Schlange warten sollte war sie wieder da, seine Angst, die ihn so oft ganz plötzlich überfällt. Also ging er einfach wieder. In der Nachtunterkunft hofft er auch, jemanden zu finden, der ihm weiterhilft. So erhält er hier die Adresse der bezirklichen sozialen Wohnhilfe und weitere Adressen von Tagescafés, Wärmestuben und Suppenküchen. Er hat seine Würde noch nicht verloren, kämpft mit Worten darum, sie zu bewahren. – Doch ohne Hilfe könnte auch er bald zu denen gehören, die Hilfseinrichtungen aus eigener Kraft nicht mehr aufsuchen können, unter Brücken im Schlafsack von der Welt abgeschottet, dahinvegetieren.
Hier in der Kältehilfe-Unterkunft kann man ihnen den Weg weisen, ihnen zuhören. Sich ihrer intensiver anzunehmen, dazu bedarf es jedoch professioneller sozialer Begleitung, die an anderer Stelle geboten wird. – Doch die Wärme, die Menschen mit unterschiedlichen Einzelschicksalen hier von 19 bis 7 Uhr des nächsten Tages in der Nachtunterkunft Wannsee erfahren, kann ein kleiner Anfang auf dem Weg zurück in ein lebenswertes und selbstbestimmtes Leben sein.
Den sozialen Standort in Berlin Wannsee hilfsbedürftigen Menschen mit weiteren Angeboten auszubauen, kann sich das Deutsche Rote Kreuz Berlin als Betreiber gut vorstellen.
Übrigens: Weitere Kältehilfe-Angebote sind auf der Kältehilfe-App und im Kältehilfe-Wegweiser zusammengefasst: von der Notübernachtung, über Nachtcafés bis hin zu Tagescafés und Kleiderkammern.
Weitere Informationen unter www.drk-sz.de
Jacqueline Lorenz
Spendenkonto
Kontoinhaber: DRK Berlin Südwest Soziale Arbeit, Beratung und Bildung gGmbH
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Verwendungszweck: Kältehilfe
* Name von der Red. geändert
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