Erschienen in Nikolassee & Schlachtensee Journal Juni/Juli 2018
Gegenargumente gab es genug: Der Funkenflug würde Häuser in Brand setzen. Und überhaupt – dass die hohen Geschwindigkeiten zu Schäden an Körper und Seele führen würden, konnte einem jeder Arzt bestätigen. Doch der Fortschritt ließ sich auch in Preußen nicht aufhalten. Drei Jahre nach der ersten Eisenbahnfahrt zwischen Nürnberg und Fürth wurde die Stammbahn im Jahr 1838 eingeweiht. Weshalb Stammbahn? Stammbahn ist die Bezeichnung der ersten Strecke, die eine Eisenbahngesellschaft in Betrieb nimmt. Die erste Verbindung der beiden Residenzstädte Berlin und Potsdam lief von Berlin-Mitte über die Orte Schöneberg, Steglitz, Zehlendorf, Griebnitzsee, Babelsberg bis zum Potsdamer Hauptbahnhof. Es war die erste Eisenbahnstrecke in Preußen. So war es vor den Zeiten des Individualverkehrs erstmals möglich, dass die Menschen an einem Ort arbeiteten und in weiter Entfernung von ihrem Arbeitsplatz wohnten. So wurden aus Dörfern Vororte, Sommerfrischler zogen gänzlich ins Grüne und fuhren mit der Bahn täglich nach Berlin.
Nach und nach entwickelte sich ein dichtes Eisenbahnnetz. Die Bahn wurde zum wichtigsten Verkehrsmittel. Die Stammbahn wurde – wie von Anfang an geplant – im Jahr 1846 bis nach Magdeburg verlängert. Später übernahm sie wiederum eine Vorreiterrolle – auf der Trasse wurden getrennte Gleise für den Fern- und den Nahverkehr gelegt, da letzterer erheblich mehr Bahnhöfe in der Umgebung bediente. Die Bedeutung der Stammbahn wurde nicht vergessen, 1938 feierte man den 100. Geburtstag der Bahn in Preußen mit einem großen Fest und der Fahrt einer historischen Bahn zwischen Berlin und Potsdam. Bis 1939 fuhr die Bahn von Zehlendorf bis Potsdam-Griebnitzsee durch. Doch durch die wachsende Bevölkerung und zunehmende Bebauung in Kleinmachnow wurde ein Zwischenhalt notwendig – der Bahnhof Düppel-Kleinmachnow wurde gebaut. Weitere Bahnhöfe waren in Planung – in Höhe Dreilinden sollte gebaut werden und gemeinsam mit der Friedhofsbahn, die vom Bahnhof Wannsee nach Stahnsdorf führte, war eine kleine „Ringbahn“ geplant.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war alles anders: Am Potsdamer Bahnhof hatten die Bomben das Gebäude fast komplett zerstört. Auch die bei Kohlhasenbrück gelegene Brücke über den Teltowkanal bot ein Bild des Grauens, so dass eine weitere Nutzung undenkbar war. Sie wurde komplett entfernt. Die Demontage der Gleise zwischen Kleinmachnow und Griebnitzsee erfolgte bereits 1946. Nach dem Bau der Mauer war die Verbindung nach Kleinmachnow ohnehin gänzlich unterbrochen und auch die Fahrgäste aus Kleinmachnow fielen weg. Für die Bewohner des Westteils der Stadt war die S-Bahn ein ungeliebtes Verkehrsmittel. „Wenn ihr mit der S-Bahn fahrt, bezahlt ihr Ulbrichts Stacheldraht“ war ein geflügeltes Wort. Die BVG baute ihr Angebot aus und so konnten die Zielorte der S-Bahnhöfe problemlos mit dem Bus erreicht werden. Dennoch konnte man bis 1980 mit der S-Bahn bis nach Düppel fahren. An der Clauertstraße gab es den Bahnhof Zehlendorf-Süd.
Der Bahnhof Düppel wurde 1982 schließlich abgerissen. Heute hat der Wald die Strecke zurückerobert. Bemühungen, dieses Teils der Stammbahn neues Leben einzuhauchen, waren bisher vergeblich. Das könnte sich künftig ändern. Der Ausbau der öffentlichen Verkehrsmittel wird mehr und mehr forciert, da der Individualverkehr aufgrund des Klimawandels nicht mehr zeitgemäß erscheint. Berliner Senat und Brandenburger Ministerien unterzeichneten im Oktober des vergangenen Jahres gemeinsam mit dem Vorstand der Deutsche Bahn AG die „Rahmenvereinbarung über das Entwicklungskonzept für die Infrastruktur des Schienenverkehrs in Berlin und Brandenburg – i2030“. In diese Liste wurde die alte Stammbahn mit aufgenommen. Eine Wiederbelebung der Trasse scheint also möglich.
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