Erschienen in Gazette Charlottenburg Juli 2021
Gelassen breiten die Kastanien ihre Zweige über die Rasenflächen des Charlottenburger Karl-August-Platz, auf denen Menschen in der Sonne chillen, sich unterhalten oder einfach nur die Seele baumeln lassen. Wo der ältere Herr mit seinem Hund spazieren geht und Kinder lachend die Spielgeräte entern, flattert eine bunte Wimpelreihe fröhlich im Wind, an den Hochbeeten wird gesägt, gewässert und demnächst die selten gewordene Färberwurzel geerntet. Zwei Frauen auf einer der Beetbänke unterhalten sich angeregt in ihrer Landessprache.
Seit dem 1. Mai 2021 stört weniger Verkehrslärm ihr Gespräch, denn im Zuge eines mehrmonatigen Verkehrsversuches und Modellprojektes ist am Karl-August-Platz in Höhe des Marktes die Krumme Straße, durch die trotz Verkehrsberuhigung zuvor täglich rund 5.000 Fahrzeuge fuhren, für den motorisierten Verkehr durch Feuerwehr-Poller nördlich und südlich der Gehwegvorstreckung zwischen Pestalozzistraße und Goethestraße gesperrt worden. Fahrräder und Lastenräder aber haben weiterhin Durchfahrtsrecht. Das Bezirksamt Charlottenburg-Wilmersdorf will damit in Abstimmung mit der Nachbarschaftsinitiative herausfinden, ob eine solche Maßnahme verkehrsreduzierend und sicherheitserhöhend sowie umwelt- und aufenthaltsverbessernd im Kiez wirkt und inwieweit dadurch andere Straßen frequentiert sind. Von der TU Berlin, Labor K, wird diese Maßnahme zur Verkehrsberuhigung wissenschaftlich begleitet. – Ein erster Schritt Richtung dauerhafte ideenreiche Neugestaltung des öffentlichen Raumes und zeitgemäße Verkehrskonzeptionierung rund um den Karl-August-Platz und erstes Etappenziel der noch jungen Nachbarschaftsinitiative. Der zugehörige Kiez, der zwischen Kantstraße und Bismarckstraße und zwischen Kaiser-Friedrich-Straße und Leibnizstraße liegt, zeichnet sich als Milieuschutzgebiet durch eine demographisch reizvolle Vielfalt seiner Anwohner aus. Gemeinsam mit diesen Menschen ihr direktes Umfeld und den potentialreichen Platz noch lebens- und damit liebenswerter sowie sicherer umzugestalten, hat sich die Nachbarschaftsinitiative „Karl-August-Kiez lebenswert“ zur Aufgabe gemacht. In trotz Corona relativ kurzer Zeit hat sie bereits einiges erfolgreich anschieben können.
Im September 2019 hatte sich die Kiez-Nachbarschaftsinitiative aus tragischem Anlass gegründet: Nachdem sich trotz verkehrsberuhigter Zone bei einem bereits zweiten schweren Unfall auf der Kreuzung Schillerstraße/Krumme Straße ein tödlicher Fahrradcrash mit einem abbiegenden Wagen ereignet hatte, taten sich der Architekt und Stadtprojekt-Entwickler Lutz Kaufmann und zwölf Gleichgesinnte zusammen, um für die längst fällige Überarbeitung des Verkehrskonzeptes in ihrem Kiez vehement einzutreten. Die Nachbarschaftsinitiative ist ein Projekt des Changing Cities e. V., von dem sie mit Rat und Tat unterstützt und gefördert wird, und mit dem sie in ständigem produktivem Austausch steht. Die Kiez-Initiative ist überparteilich orientiert und verfolgt gemeinsam mit den Fraktionen der bezirklichen BVV das Ziel, Fuß- und Radverkehr rund um den bis dahin recht vernachlässigten Karl-August-Platz einen höheren Stellenwert zukommen zu lassen. „Dabei geht es uns nicht um die Verdrängung des Autoverkehrs, sondern vielmehr um ein vernünftiges und dringend notwendiges übergeordnetes Parkleitsystem“, betont Lutz Kaufmann. Dadurch soll auch der Kiez-Verkehr rund um den Platz in weniger belastende Bahnen gelenkt, ausreichend vorhandener Parkraum Anwohnern und Gewerbetreibenden zur Verfügung gestellt und Besuchern der Weg zu den in direkter Umgebung vier parkraumbietenden Parkhäusern übersichtlich und leicht verständlich gewiesen werden. Ausreichend Parkraum für Kiezbesucher steht in folgenden, von Nord nach Süd aufgezählten Parkhäusern zur Verfügung: Parkhaus Deutsche Oper, Parkhaus Bismarck-Center, Parkhaus Wilmersdorfer Arkaden und Parkhaus Kant-Center. Auch mit dem ÖPNV lässt sich der Kiez gut erreichen. Bunt gemischt ist das Angebot rund um den Platz, vom kleinen, aber feinen Dienstleister, über das gemütliche Café und angesagte Restaurant bis hin zum Einzelhändler, der leckeres Brot oder den besonderen Wein bereit hält sowie den gut besuchten Wochenmarkt ist für jeden Geschmack etwas dabei. Dass diese Vielseitigkeit im Kiez erhalten bleibt, wünschen sich Anwohner und Initiative, – auch wenn der Trend derzeit verstärkt zur Umwandlung in Büroflächen geht.
Seit ihrer Gründung hat die Nachbarschaftsinitiative etliche Anwohner mit ihren Ideen erreichen und zum Mitmachen überzeugen können, waren doch immerhin über 100 interessierte Nachbarn schon zur ersten Versammlung der neu gegründeten Initiative im Jahr 2019 in den Räumen der Trinitatis-Kirchengemeinde, die den imposanten Platzmittelpunkt bildet, erschienen. – Für deren Unterstützung – gerade wenn es um das Raumangebot für ihre Versammlungen etc. geht – ist die Nachbarschaftsinitiative ebenso dankbar wie für bezirkliche Projekt-Förderung.
„Wie sollen unsere Quartiere zukünftig aussehen?“ fragen sich die Gründer der Nachbarschaftsinitiative „Karl-August-Kiez lebenswert“, zu denen als wichtige Ideengeber neben Lutz die Marketingfrau Gesine und die Künstlerin Gudrun gehören. An ihrer Seite in regelmäßigem Kontakt wissen sie rund 30 aktive Nachbarn und Geschäftsleute. Inzwischen zählen zum Netzwerk außerdem über 350 interessierte Bürger, die den aktuellen Newsletter der Nachbarschaftsinitiative abonniert haben. Sie unterstützen sie in ihren Zielen, liefern neue Ideen und packen mit an, wenn es zu tun gibt. – So wie beim Hochbeetprojekt, für das zuerst ein Prototyp-Beet angelegt worden war, inzwischen aber vier Beete stehen. Die ebenfalls aus recyceltem Holz gezimmerten Bänke davor haben aufklappbare Sitzflächen, in denen der Kompost auf seinen Einsatz im Beet wartet. Die Hobby-Gärtner der Nachbarschaftsinitiative bauen auf den Beeten u. a. Bohnen, Kürbisse und fast vergessene Gemüsesorten, aber auch Kräuter und schmückende Pflanzen wie Ringelblume und Männertreu an. Unterstützung beim Wässern und Pflegen ist nicht nur in den heißen Monaten willkommen. Über ein internes Forum tauschen sich die Gartenfreunde aus. Außerdem arbeiten die Anwohner jeden Alters gemeinsam mit der Initiative daran, den Platz vom Müll hin zum lebenswerten Kieztreff zu „bereinigen“. Gerade hat die BSR noch einen Mülleimer mit Kippenfänger neben den Beeten installiert, und auch das Landschaftsplanungsbüro ist mit einbezogen. „Der Platz entwickelt sich zum Ort ganz besonderer Achtsamkeit“, freut sich Gudrun. Die aktuelle Straßensperrung verfolgt die Initiative mit regelmäßigen Nachbarschaftstreffen auf dem Karl-August-Platz und ist mit dem Bezirksamt über kurz-, mittel- oder langfristig umsetzbare Ideen und Veränderungen im konstruktiven Gespräch. Unter www.mein.berlin.de/projekte/verkehrskonzept-karl-august-kiez/ erbittet die Nachbarschaftsinitiative Kommentare und Meinungen zur derzeitigen Straßensperrung.
Auch wenn coronabedingt die öffentliche Fete de la Musique ausfallen muss, ist für den 14./15. August 2021 auf dem Karl-August-Platz ein für Alt und Jung nicht weniger fröhliches Musikfest an frischer Luft geplant. Damit alle Anwohnergruppen zu erreichen und vielleicht auch mehr Jugendliche für die Mitgestaltung des Kiezes und ihre Aktionen begeistern zu können, wünscht sich die aktive Nachbarschaftsinitiative „Karl-August-Kiez lebenswert“, die weiterhin auf sicherem Kurs für die Verkehrsberuhigung des Kiezes und die Belange der Nachbarschaft sein wird.
Weitere Informationen und Kontakt zur Nachbarschaftsinitiative unter www.karl-august-kiez.de
Am 1. November 1894 war der quadratische Blockplatz als Kirch- und Schmuckplatz mit Rasenstücken angelegt worden. Auf westlicher Seite fand ein Wochenmarkt zur Versorgung der Bevölkerung statt. 1897 schließlich erhielt der Platz seinen Namen nach Großherzog Karl August von Sachsen-Eisenach. Zwischen 1896 und 1898 wurde die evangelische Trinitatis-Kirche als Platzmittelpunkt errichtet. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges wurden Platz und Kirche durch Luftangriffe zerstört, doch bereits 1949 konnte auf dem Karl-August-Platz der Marktbetrieb wieder aufgenommen werden. Zwei Kinderspielplätze wurden angelegt. Fast 60 Jahre später forderte die BVV Charlottenburg-Wilmersdorf zur Umbenennung des Platzes in Benno-Ohnesorg-Platz auf. Doch sein 125-jähriges Jubiläum im Jahr 2019 feierte der Platz unter altem Namen.
Jacqueline Lorenz
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