Erschienen in Nikolassee & Schlachtensee Journal April/Mai 2022
1872 brach eine neue Zeit an – zumindest für die Zehlendorfer Verwaltung. Schon 1856 verabschiedete Preußen eine Landgemeindeordnung. Sie sah vor, dass anstelle einer Gemeindeversammlung künftig gewählte Gemeindevertreter über die Belange des Ortes entscheiden konnten. 1872 nutzte auch Zehlendorf diese Möglichkeit. Bisher wurde der Schulze (Bürgermeister) vom Königlichen Amt Mühlenhof am Mühlendamm in Berlin eingesetzt. Hier der § 8 der „Landgemeindeordnung für die sechs östlichen Provinzen der Preußischen Monarchie“:
Bildung einer gewählten Gemeindevertretung. Auf den Antrag einer Gemeinde kann an die Stelle der Gemeinde-Versammlung eine Vertretung derselben durch gewählte Gemeindeverordnete eingeführt werden.
Wo dies geschehen soll, sind zuvor durch ein Statut die dazu erforderlichen Festsetzungen betreffen, insbesondere über die Gesammtzahl der Gemeindeverordneten, die Wahlperiode, die etwaige Klasseneintheilung der Wähler, die hierbei aus jeder Klasse zu wählende Zahl von Gemeindeverordneten, und die Wahlordnung.
Über ein solches, von der Gemeinde unter Mitwirkung der Ortsobrigkeit und des Landrathes zu entwerfendes Statut ist der Kreistag zu hören, und dasselbe kann mit dem Gutachten der Regierung und des Oberpräsidenten dem Minister des Innern zur Bestätigung vorzulegen.
So konnten die Zehlendorfer ihre Verwaltung selbst bestimmen. Zum ersten gewählten Gemeindevorsteher wurde der Gutsbesitzer Wilhelm Haupt. Verstärkung bekam er von den Wilhelm Dubrow und Friedrich Zinnow – beide ebenfalls Gutsbesitzer – als Schöffen und neun weiteren Gemeindevertretern. Übergeordnet war der Teltower Kreistag, besonders geprägt wurden Zehlendorf und seine Umgebung durch den Landrat Ernst Stubenrauch, der vor allem durch den Bau des Teltowkanals bekannt wurde. Seit 1876 tagte die Gemeindevertretung übrigens im alten Schulhaus neben der Kirche – dem heutigen Heimatmuseum. Dort war auch der Sitz des ebenfalls ehrenamtlichen Amtsvorstehers, der für standesamtliche und polizeiliche Angelegenheiten zuständig war. Amtsvorsteher waren von 1874 bis 1889 Julius Pasewalk und ab 1889 Hermann Milinowski. Letzterer war vermutlich bis 1909 im Amt, danach wurden die Tätigkeiten des Amtsvorstehers und des Gemeindevorstehers zusammengelegt.
Wilhelm Haupt blieb bis 1883 Gemeindevorsteher. Auf ihn folgten Wilhelm Dubrow von 1883 bis 1889 und Friedrich Schweitzer von 1889 bis 1902. Bis 1901 blieb der Gemeindevorsteher ein Ehrenamt, für das es eine jährliche Aufwandsentschädigung von 1.200 Mark gab. Ein Einblick in diese Aufgaben gibt eine Liste aus dem Jahr 1884. Neben dem Ankauf des Gemeindewäldchens stehen unter den vielen Punkten auch die Verhinderung der Anlegung eines Rieselfelds auf dem Rittergut Düppel, die Bildung einer Freiwilligen Feuerwehr und die Petition an den Reichstag wegen Versetzung Zehlendorfs aus der 5. in die 2. Servisklasse. Es war viel Arbeit, denn bis 1889 musste der Gemeindevorsteher diese gemeinsam mit dem Steuererheber und einem Gemeindediener alleine bewältigen. Der arme Gemeindediener war nicht nur für den Außendienst zuständig, sondern war auch der Nachtwächter von Zehlendorf. Doch Hilfe nahte – 1900 hatte die Gemeindevertretung 20 Mitarbeiter, 1905 war die Anzahl bereits auf 50 Mitarbeiter angewachsen. Der Chronist Kurt Trumpa schrieb in seinem Buch „Zehlendorf in der Kaiserzeit“: „Das ‚Parkinsonsche Gesetz‘, wiewohl damals noch nicht formuliert, galt auch für Zehlendorf in der Kaiserzeit“. Das ironisierende Gesetz zum Bürokratiewachstum lautet „Arbeit dehnt sich in genau dem Maß aus, wie Zeit für ihre Erledigung zur Verfügung steht.“, veröffentlicht 1955. Urheber war der britische Soziologe C. Northcote Parkinson.
Im November 1901 sollte ein hauptamtlicher Gemeindevorsteher gewählt werden. Amtsinhaber Friedrich Schweitzer erschien den Gemeindevertretern mit seinen Aufgaben überfordert. Aber in der ersten Sitzung am 30. November konnten sich die zuständigen Herren nicht einigen. Also wurde durch den Schöffen Ernst Wilski eine neue Sitzung einberufen, die am 3. Dezember 1901 stattfand. Hier einigte man sich auf den Verwaltungsjuristen Hugo Köster. Ihn erwartete eine Anstellung über 12 Jahre. Anfangsgehalt 6.000 Mark jährlich, das sich im Laufe der Jahre auf 7.500 Mark steigern sollte, dazu 1.500 Mark Mietentschädigung. Bei der Währung handelte es sich um Goldmark, bei insgesamt 9.000 Mark jährlich bekam Köster also in heutiger Währung etwa 90.000 Euro. Für damalige Verhältnisse war das kein geringes Gehalt, das die Landgemeinde ihrem Vorsteher zahlte. Die Zehlendorfer waren mit seiner Leistung so zufrieden, dass sie Köster wiederwählten, als seine erste Amtszeit 1913 endete. Als die Landgemeinde im Jahr 1920 zum Berliner Bezirk Zehlendorf wurde, war es wiederum Hugo Köster, der zum Bezirksbürgermeister gewählt wurde. Auch wenn Zehlendorf nicht einmal 50 Jahre lang eine Landgemeinde war, war es doch eine Zeit, in der sich das Dorf zu einem Villenvorort entwickelte, der heute noch das Bild prägt.
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