Erschienen in Gazette Charlottenburg und Wilmersdorf Mai 2022
Begehrte Innenstadt – Milieuschutz soll Mieterinnen und Mieter schützen. Für den Kiez um den Amtsgerichtsplatz und um die Schloßstraße wurde laut Gutachten kein Milieuschutz empfohlen. Wie die Fraktionen der BVV zu der Entscheidung stehen, lesen Sie in den folgenden Beiträgen:
Es ist sehr bedauerlich, dass sowohl das Gutachten der LPG als auch das Gutachten von S.T.E.R.N. für die Festsetzung des Milieuschutzes am Amtsgerichtsplatz/Schloßstraße keine Empfehlung aussprechen. Wir haben uns intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, inwiefern die Festsetzung der Erhaltungsverordnung trotz der fehlenden Empfehlungen begründet werden könnte und im Falle eines Rechtsstreits auch vor Gericht Bestand hätte. Leider können die Ideen, wie z. B. den Geltungsbereich des Milieuschutzgebietes anzupassen, nicht umgesetzt werden.
Mit der Umwandlungsverordnung, dem Verbot der Zweckentfremdung oder der Mieter:innenberatung können die Mieter:innen vor Verdrängung geschützt werden. Jedoch reichen die vorhandenen Instrumente bei weitem nicht aus und erfordern umfassende Reformen im Bau- und Mietrecht. Der Entschließungsantrag des Bundesrates zur Wiederherstellung und Stärkung des Vorkaufsrechts in Milieuschutzgebieten oder der Entschließungsantrag des Europäischen Parlaments, die die Mitgliedsstaaten an ihre Verpflichtung zur Regulierung des Immobilienmarktes erinnern, setzen an der Stelle wichtige Impulse.
Jun Chen
Es ist unser Ziel, Milieuschutzgebiete überall dort zu erlassen, wo es rechtssicher möglich ist. Zwei unabhängige Gutachten kommen leider zum Ergebnis, dass diese Voraussetzungen im Gebiet Schloßstraße/Amtsgerichtsplatz nicht gegeben sind. Das ist bitter, denn die Mietenkrise macht auch dort keinen Halt. Viele Mieter:innen sind von Verdrängung bedroht und zahlen mehr als 30 Prozent ihres Monatseinkommens an Miete. Deshalb müssen wir alle übrigen Instrumente, die uns als Bezirk und Land zur Verfügung stehen, noch stärker nutzen. Seit 2021 ist es möglich, Umwandlungen von Miet- in Eigentumswohnungen auch außerhalb von Milieuschutzgebieten zu unterbinden. Mit Hilfe des Zweckentfremdungsverbotsgesetzes können und müssen wir Leerstand bekämpfen, Abriss von Wohnraum verhindern und darauf bestehen, dass bezahlbarer Ersatzwohnraum geschaffen wird – und zwar konsequenter und mit mehr Nachdruck, als es jetzt geschieht. Dort sehen wir vor allem die zuständige Verwaltungsabteilung in der Pflicht. Zur Wahrheit gehört jedoch auch: Damit die Mietenkrise wirklich gestoppt werden kann und Kommunen endlich wieder voll handlungsfähig werden, sind wir dringend auf umfassende Reformen des Bau- und Mietrechts auf Bundesebene angewiesen.
Nico Kaufmann
Für das Gebiet rund um den Amtsgerichtsplatz und die Schloßstraße wird keine soziale Erhaltungssatzung festgesetzt werden; dies ist vor dem Hintergrund der eindeutigen Einschätzung zweier Gutachten, dass die Voraussetzungen für solche Verordnungen hier nicht gegeben sind, die einzig richtige Entscheidung, auch wenn sie für einige Anwohner möglicherweise schwierig nachvollziehbar ist. Grundsätzlich handelt es sich bei den sozialen Erhaltungsverordnungen aber ohnehin nicht um ein Instrument des Mieterschutzes, auch wenn sie in Berlin regelmäßig als solches angewandt werden, sondern um ein rein städtebauliches Instrument. Die Mieter sind hier, wie überall sonst auch, vor allem mit den im Mietrecht vorhandenen Instrumenten vor einer Verdrängung zu schützen. Leider wird von diesen Instrumenten oftmals nicht in ausreichendem Maße Gebrauch gemacht; daher setzen wir uns dafür ein, dass kostenlose Beratungsangebote für von einer Verdrängung bedrohte Mieter ausgeweitet werden. Denn nur der, der um seine Rechte weiß, kann sie auch nutzen. Zudem wird durch die neue Berliner Umwandlungsverordnung die Aufteilung von Mietshäusern in Eigentumswohnungen weitgehend verunmöglicht, was eine Verdrängungsgefahr vielfach entschärfen dürfte.
Christoph Brzezinski
Die Diskussion um den Milieuschutz ist von einem fehlerhaften Verständnis des § 172 BauGB geprägt. Insbesondere wird immer von einem Instrument des Mieterschutzes gesprochen. Dies ist der genannte Paragraph jedoch mit Nichten. Der Paragraph soll Kommunen vor finanziellen Belastungen durch negative städtebauliche Entwicklungen schützen. Da die Position der FDP-Fraktion zum Milieuschutz hinreichend bekannt ist, lass ich hier eine im Gebiet ansässige Familie zu Wort kommen:
„Sollte der Milieuschutz im Gebiet Schloßstraße/Amtsgerichtsplatz kommen, so werden wir unsere Wohnung nicht erweitern können. Wir haben den Bauantrag für den entsprechenden Dachgeschossausbau über unserer Wohnung bereits eingereicht. Damit möchten wir für unsere 5-köpfige Familie genug Platz schaffen. Der Ausbau ist rein für uns; nicht für die Mieteinnahmen, nicht um die Wohnung zu verkaufen. Wir wohnen hier seit 2006, sind hier stark verwurzelt. Viele unserer Verwandten wohnen in unmittelbarer Nähe zu uns. Unsere Möglichkeit zu bleiben, wird vom Milieuschutz nicht geschützt, sondern bedroht.“
Fazit: Auch Milieuschutz hat zwei Seiten, die bisherige singuläre Betrachtung muss aufhören. Denn Milieuschutz konserviert und lässt keinen Raum für Entwicklungen zu.
Johannes Heyne
Am 30. April lief der von SPD, Grünen und LINKE vor zwei Jahren beschlossene, vorläufige Milieuschutz für fast 12.000 Wohnungen rund um Amtsgerichtsplatz und Schloßstraße aus. Nun kann das Bezirksamt Anträge für die Aufwertung und Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen nicht mehr aufhalten. Obwohl eine beauftragte Untersuchung Verdrängungsgefahr für über 40 Prozent (!) der Haushalte feststellt, schrecken SPD und Grüne wegen rechtlicher Bedenken davor zurück, den Milieuschutz dauerhaft zu sichern. Leider stimmten sie in der BVV gegen unseren Antrag, das Gebiet sofort und dauerhaft unter Milieuschutz zu stellen. Diese Entscheidung wird unmittelbare Folgen für Mieter:innen haben, auf die nun Aufwertungen, weiteren Mietsteigerungen und Eigentumsumwandlungen zukommen werden. Verdrängung – besonders von Familien und Alleinerziehenden mit weniger Einkommen – darf aber nicht einfach hingenommen werden. Die wenigen Möglichkeiten, die Kommunen wegen der mieter:innenunfreundlichen Bundesgesetze noch haben, um Bewohner:innen zu schützen, müssen unbedingt genutzt werden! Wenn der Bezirk wegen juristischer Bedenken eine politisch gewünschte und notwendige Maßnahme nicht umsetzt, gleicht das Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Rüdiger Deißler
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