Erschienen in Wannsee Journal Oktober/November 2018
Zehlendorf in der Gründerzeit: Das bisherige Bauerndorf vergrößerte sich zusehends. Dank der Bahn konnten die neuen Bewohner die Stadt Berlin problemlos erreichen. Damals regierte noch Kaiser Wilhelm I., Heinrich Schliemann grub Troja aus und der Gründerkrach erschütterte die Wirtschaft. In Zehlendorf gründete der Lehrer Karl Schrock mit mehreren Mitstreitern den ersten Verein im Ort. Dazu trafen sich am 2. Dezember zwei Dutzend Herren und riefen den Männergesangverein Zehlendorf 1873 ins Leben. Erster Vorsitzender des neu gegründeten Vereins war Heinrich Pathe.
Die Neugründung traf den Nerv der Zeit – bereits am Folgetag erschienen 40 Männer zur ersten gemeinsamen Chorprobe. Die Mitgliederschar war bunt gemischt. Lehrer, Maurer, Politiker, Schmiede und viele weitere Berufe waren vertreten, unter ihnen befanden sich viele Meister ihrer Zunft. Die honorigen Herren trafen sich anfangs am ersten Haus am Platze beziehungsweise im Dorfe. Das war das Hotel Prinz Friedrich Carl von Preussen, erbaut 1872. Dieses Haus musste jedoch aufgrund von Erweiterungen der Gleisanlagen 1888 schon wieder abgerissen werden. Der Gesangverein hatte die Straßenseite gewechselt und war längst im Gasthaus Wiesenburg aktiv. 1888 ging es an die Berliner Straße, in die Russack’schen Säle, später Lindenpark. Heute sind dort das Tomasa und der Primus Palast. Es folgte der Kaiserhof, in dem auch das 25-jährige Bestehen des Vereins groß zelebriert wurde. Dort wurde bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 gesungen. Während der beiden Weltkriege waren viele Sänger an der Front, so dass das Vereinsleben ruhte.
Erst 1949 wurde wieder gemeinsam gesungen. Schon 1951 hatte der Verein wieder 39 aktive Sänger. Geübt wurde erst in der Gaststätte Wiesenburg am Teltower Damm 44. Sie wurde später abgerissen, heute befinden sich dort Wohnhäuser, Geschäfte und Restaurants. Die Chronik des Vereins informiert über weitere Umzüge – zum Café Bluhm in der Onkel-Tom-Straße und in das Lokal „Zum Rüdesheimer“ in der Berliner Straße 35 a. Der Begeisterung für den Verein schadeten die vielen Umzüge nicht, mittlerweile waren 52 Sänger aktiv.
1952 wurde unter dem Dach des Männergesangvereins ein Frauenchor gegründet. Dieser ist unter dem Namen Zehlendorfer Frauenchor 1952 mit einem eigenen Vorstand aktiv. Der 1983 gestellte Antrag, den Männergesangverein in Zehlendorfer Singverein umzubenennen, wurde mehrheitlich abgelehnt. Auftritte wie zur 750-Jahr-Feier Berlins und Chorgesang am Großen Fenster an der Havel für eine SFB-Produktion gehörten zu den zahlreichen Aktivitäten des Chors.
Neben dem Chorgesang waren gemeinsame Unternehmungen und Geselligkeit ein wichtiger Punkt beim Männergesangverein. Fahrten zur Chortreffen und gemeinsame Ausflüge, bei denen auch im Bus kräftig gesungen wurde, waren bei den Mitgliedern eine beliebte Abwechslung. Doch aktuell plagen den Männergesangverein die gleichen Sorgen, die viele Vereine haben: Der Nachwuchs fehlt. Mittlerweile sind nur noch 18 aktive Sänger dabei, verriet uns der Ehrenvorsitzende Winfried Bähr. Dabei sind die Voraussetzungen für den Einstieg gering – Freude am Singen reicht. Und Chorleiterin Helga Delgado, eine junge Frau aus Argentinien, ist seit fünf Jahren dabei und hat die Herren fest im Griff. Seine Proben hält der Verein jeden Dienstag von 19 bis 21 Uhr im Herta-Müller-Haus in der Argentinischen Allee 89 ab, denn „Gaststätten mit einem großen Vereinszimmer gibt es leider nicht mehr“, bedauert Winfried Bähr.
Im Oktober kann der Verein nun auf sein 145-jähriges Bestehen zurückblicken. Aufgrund der geringen Mitgliederzahl ist auch keine große Veranstaltung zum Jubiläum geplant. Eine Feier für Mitglieder im kleinen Kreis wird es aber sicher geben. Doch bei öffentlichen Auftritten können die Sänger ihr Können wieder zeigen – beispielsweise während der Steglitzer Wochen, in denen sie traditionell im Wrangelschlößchen singen und im Advent bei ihrem Konzert in der Pauluskirche. Der Eintritt zu den Veranstaltungen ist frei, der Verein bittet die Besucher um Spenden. Bei den Veranstaltungen singen übrigens Frauen- und Männerchor – bei einigen Liedern auch gemischt.
Und wer weiß, vielleicht entdeckt beim Zuhören jemand die Freude am Singen? Winfried Bähr ist auch ganz unverhofft in Kontakt mit dem Verein gekommen. Sein Nachbar war Mitglied und forderte ihn öfter auf, doch mitzukommen. Doch Herr Bähr winkte jedes Mal ab. Das änderte sich, als er erfuhr, dass die Sänger vor der Probe Skat spielten. Als leidenschaftlicher Skatspieler kam er doch einmal mit. Aus einem Mal wurde öfter, doch vor der Chorprobe ging er nach Hause. Bis er dann eines Tages doch da blieb… Von da an war er dem Männergesangverein als aktives Mitglied treu. Informationen und eine ausführliche Chronik des Vereins finden Sie unter www.mgv-zehlendorf.de .
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