Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau November 2022
Viel hat er schon gesehen, der älteste erhaltene und denkmalgeschützte Bau der 3. Gemeindeschule aus dem Jahr 1892 in der Schöneberger Kyffhäuserstraße 23. Seit 1997 gilt das Backsteingebäude als DER innovative Kunstort für Dezentrale Kulturarbeit im Bezirk: Unter dem Dach des zentral gelegenen Kulturhaus Schöneberg kommen über vier Etagen verteilt auf 2.000 Quadratmetern namhafte kreative Köpfe unterschiedlichster Kunstrichtungen und –projekte zusammen. In den lichtdurchfluteten ehemaligen Klassenzimmern und Schulräumen finden Kunstschaffende aus Bereichen wie Theater, Musik, Malerei, Zeichnung, Fotografie, Klangkunst, Gesang, Skulptur und Installation bei moderaten Mieten im Haus ideale Bedingungen, um sich zu vernetzen, Kunst weiterzuentwickeln und ihr Werk eindrucksvoll zu präsentieren. Die meisten der Nutzer haben ein Kunststudium absolviert, agieren professionell und tragen so zur positiven Außenwirkung des Kulturhauses bei. Auch besuchen häufig Stipendiaten und namhafte Künstler das Haus, und regelmäßig findet hier internationaler Austausch in Sachen Kunst und Kultur statt. Die Internationalität des Hauses wird großgeschrieben und spiegelt sich in den Mietern wider.
Am Samstag, den 5. November von 14 – 20 Uhr und am Sonntag, den 6. November von 12 – 18 Uhr können sich Kunstfreunde beim diesjährigen Galerierundgang und Besuch der vielen Offenen Ateliers im Kulturhaus Schöneberg einmal mehr davon überzeugen und sich selbst ein Bild von der Künstlerischen Vielfalt des Hauses und freischaffenden Schöneberger Kunstszene mit ihren zahlreichen Kunst-Akteuren und Positionen machen. Kunst auf den Fluren, Cornelia Ottinger mit ihrem Saxophon auf dem verwunschen anmutenden Hof sowie Stärkungen für Leib und Seele erwarten dann die Gäste. Nähere Informationen zu den teilnehmenden Galerien und Ateliers der Schöneberger Art unter www.schoeneberger-art.de
Betritt man das Kulturhaus Schöneberg von der Straße aus, verrät der „Stille Portier“ bereits, welch bunte und beeindruckende Vielfalt an Künstlern und Kunsteinrichtungen das Haus beherbergt. Noch persönlicher und mit anerkennenden Worten zu jedem ihrer kunstschaffenden Nachbarn weiß Malerin, Grafikerin und Objektkünstlerin Sonja Blattner die Mit-Mieter des Kulturhauses vorzustellen, das u. a. zwei privaten Musikschulen, einer Malschule für Kinder und Jugendliche, einer Kinder-Tanzschule und 33 Ateliers Platz bietet: Da hat im Erdgeschoss das Chinesische Musikzentrum Berlin eine Niederlassung und klingt es aus dem Musik-Projekt-Raum melodisch über den Flur. Fotograf Walter Wetzler – seit 11 Jahren im Haus – arbeitet im Erdgeschoss in seinem Atelier an Künstler-Fotoportraits, „inspiriert und fasziniert von den Lichtstimmungen und Ausblicken“ dieses geschichtsträchtigen Gebäudes. Aussagekräftig und empfehlenswert seine Fotobroschüre aus dem Jahr 2018 „Kyffhäuser 23 – Die Künstler“, in der er den renommierten Musiker Wu Wei und die Musikmanagerin Li Yu aus dem Musikzentrum ebenso im Bild festgehalten hat wie die Bildende Künstlerin Verena Weckwerth und in 36 weiteren Schwarz-weiß-Fotoportraits die meisten seiner sich ganz der Kunst und Kultur verschriebenen Hausnachbarn, darunter Perkussionisten, Ausstatter, Bildende Künstler, Sänger, Theater-Geschäftsführer und Pianisten. Scheinbar zufällig bei ihrer Arbeit abgelichtet, jeder für sich etwas ganz Besonderes und unverzichtbarer Teil dieses Hauses. Auch Walter Wetzler und Sonja Blattner dürfen da zwischen den Portraits nicht fehlen.
Möglichkeiten zur künstlerischen Entfaltung geben die großzügigen Arbeitsräume reichlich. Film, Video und Fotografie finden hier ebenso kreativen Raum wie der Berliner Salon für Fotokunst, Rauminstallationen, Malerei und plastische Objekte. Und in der ehemaligen Schul-Turnhalle hat das Jugend-Theater Strahl seine Probebühne mit regelmäßigen Veranstaltungen. Sonja Blattner, die von Anfang an im Kulturhaus ihr Atelier hat, erinnert sich: „Es hingen noch die Turnringe von der Decke, als hätten die Schüler die Halle gerade verlassen.“ Deren bauzeitliche Dachkonstruktion mit offenem Sprengwerk ist erhalten und heute eine Besonderheit.
Den durch alten Baumbestand reizvollen Innenhof pflegen und wässern die Mieter des Kulturhauses liebvoll, gerne kommt man hier zusammen, entspannt oder empfängt kunstliebende Besucher. „Die Remise hier auf dem Hof könnte ein reizvoller Gemeinschaftsraum werden“, kann sich nicht nur Sonja Blattner gut vorstellen. Doch nachdem eine Bildhauerin, die darin arbeitete und vermehrt über Kopfschmerzen klagte, eine Analyse hatte erstellen lassen, wurde klar: Vor einer weiteren gefahrlosen Nutzung der Remise muss die vollständige Sanierung des einst mit gesundheitsschädlicher Farbe behandelten Daches stehen.
Bis 1986 war in dem in die Jahre gekommenen Schulhaus noch die Werbellinsee-Grundschule untergebracht, die heute in der Luitpoltstraße im Neubau ihren Sitz hat. Auch eine Slawische Privatschule nutzte kurze Zeit die alten Schulräume. Um 1890 hatte die Berlinische Boden-Gesellschaft begonnen, das Viertel rund um den Barbarossaplatz zu entwickeln. Die Schöneberger Gemeindeverwaltung ließ 1889-90 nach Plänen von Stadtbaurat Paul Egeling die 3. Gemeindeschule, Kyffhäuserstraße 23 errichten. Erst Mitte der 1880er-Jahre hatte man in Schöneberg angefangen, neue Schulen für die schnell wachsende Bevölkerung zu bauen. Die beiden ersten Gemeindeschulen in der Feurigstraße (1880/81) und in der Dominicus-Ecke Koburger Straße (1886) wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Das Schulgebäude in der Kyffhäuserstraße ist damit der älteste erhaltene Bau einer Gemeindeschule in Schöneberg. Nachdem es bereits längere Zeit nicht mehr als Schule genutzt worden war, übernahm der Bezirk 1997 das Gebäude mit dem charmanten Innenhof. Der damalige Bezirk Schöneberg erarbeitete zusammen mit dem Sanierungsträger GSE, dem Kulturbeirat und dem Atelierbüro der bbk Berlin ein Konzept für die Nutzung und Sanierung und betreibt es seitdem als „Kulturhaus Schöneberg“. Die Dezentrale Kulturarbeit nimmt im Kulturhaus Schöneberg in der Kyffhäuserstr. 23 initiierende, koordinierende und vernetzende Aufgaben wahr.
Der viergeschossige Backsteinbau ist bis auf einige Modernisierungsmaßnahmen im Inneren noch weitgehend in seinem ursprünglichen Zustand erhalten und nicht ohne Charme: Da sind die alten Emaillebecken auf den Fluren, beliebt und gepflegt von den aktuellen Mietern des Kulturhauses, und das schmiedeeiserne Treppengitter. Im reizvollen Kontrast stehen sie zu den zeitgenössischen Werken an den Flurwänden, mit denen die derzeit kunstschaffenden Nutzer dem Haus ein Gesicht mit ihrer Handschrift bzw. ihrem Pinselstrich gegeben haben.
Das Haus trägt sich und notwendige Reparaturen aus Mieteinnahmen und Fördervereins-Mitteln nahezu selbst, Träger ist die GSE.
„Endlich konnte auf den Fluren aus Vereinsmitteln eine professionelle Beleuchtung für Ausstellungen und Events installiert werden“, erklärt Sonja Blattner nicht ohne Stolz. Es gibt eben immer etwas zu tun an dem alten Komplex. Gerade sind es die sich zum Gebäude vortastenden Wurzeln der alten Hofbäume, die Kopfzerbrechen bereiten.
Wichtiger Unterstützer in kleinen und großen Alltagsdingen und damit ein unverzichtbarer Netzwerker ist der Förderverein; sei es, wenn es um die Unterstützung der Verwaltung, um Müllprobleme oder das Gespräch mit den Mietern geht.
In der dritten Etage des Kulturhaus Schöneberg scheint das Licht besonders verschwenderisch mit den Künstlern umzugehen. Hier haben auch die Bildende Künstlerin Irene Hoppenberg, die Maler Sabine Noll, Hans Pfleiderer und Sonja Blattner ihre Ateliers.
Sonja Blattner öffnet ihre Ateliertür: Gemälde an den Wänden, Objekte in deckenhohen Regalen, Farbenfrohsinn wohin man blickt. Dazwischen Fachbücher, Pinselarmeen, ein artiges Porträt der jungen Ulrike Meinhof, Kochplatte, Konservendosen. Künstlerleben pur, Sonja malt tags und nachts. Und dann sind da diese Häuser, Mittelpunkt ihrer künstlerischen Arbeit: Auf Gemälden 11 x 14,8 und 60 x 80 oder als schwergewichtig wirkendes, doch federleichtes Objekt, auf Magneten sturzgesichert. Nicht Sonjas Phantasie entstammen sie, sondern der Realität: Gemalt nach dem Vorbild längst der Abrissbirne zum Opfer gefallener oder aus amerikanischen Immobilienblättchen zum Verkauf stehender Häuser. Manchmal hat längst eine Autobahn ihren einstigen Standort eingenommen. – Oder von der Künstlerin mit Geschichtsgespür nach Fotos fast vergessener Dutch Houses einer längst vergangenen Epoche abgebildet. Terrassen, keine Menschen vor den Häusern, dafür handschriftlich darunter gesetzte Titel wie „Herr Hund lebt jetzt woanders“.
„Der Betrachter macht sich über den Titel sein eigenes Bild von der Geschichte des Hauses“, erklärt Sonja, der die Titel meist spontan einfallen, oft auch als Gedichtausschnitte. Wie jedes Haus seine wahre Geschichte hat, erzählen ihre aus Öl auf Leinwand, Acryl oder Gouache auferstandenen Häuser dem jeweiligen Betrachter eine ganz eigene fiktive Geschichte und besitzen individuelle Spannung. Doch da sind auch die Katzen, Sonjas Lieblingstiere, die auf Mini-Bildchen oder in Objektform immer wieder irgendwo zwischen den Häuserdarstellungen auftauchen und Sonja Blattners Atelier so persönlich und heimelig wirken lassen. Ihres und die anderen Offenen Künstler-Ateliers des Kulturhaus Schöneberg am 5. und 6. November zu erkunden, sind Besucher herzlich willkommen.
Jacqueline Lorenz
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