Erschienen in Gazette Steglitz November 2022
Laut einer Hamburger Studie aus dem Jahr 2019 können – übertragen auf Berlin – rund 320.000 Menschen in der Hauptstadt nicht lesen und schreiben, allein etwa 20.000 von ihnen leben in Steglitz-Zehlendorf. Oft spielt falsche Scham eine Rolle, sodass diese auf anderen Gebieten oft sehr begabten Menschen sich nicht outen, sondern ihr Defizit zu verstecken suchen. Das verbraucht viel Kraft, die für nachträgliches Lesen- und Schreibenlernen weitaus sinnvoller eingesetzt werden könnte.
Respekt verdienen da Menschen, die zu ihrer Schreib- und Leseschwäche stehen und im Erwachsenenalter noch einmal „zur Schule gehen“, um diese zu korrigieren. Und wenn sie dann auch noch andere Schicksalsgefährten davon überzeugen können, sich ebenfalls in diesen späten Lernprozess zu begeben, dürfen sie mit Recht als wahre Helden bezeichnet werden, deren Potenzial nicht zu unterschätzen ist.
Einer dieser Helden ist Gerhard Prange. Erst im Alter von 53 Jahren entschloss sich der gebürtige Lichterfelder vor 12 Jahren „richtig“ Lesen und Schreiben zu lernen. Heute steht er ganz vorne, wenn es darum geht, anderen Mut zu machen, ebenfalls diesen Weg einzuschlagen. So auch am 21. September 2022 in Gutshaus Steglitz auf der Gründungsveranstaltung des Alpha-Bündnisses Steglitz-Zehlendorf, das er stolz und feierlich vor rund 60 Gästen eröffnete mit den Worten: „Hiermit ist das Alpha-Bündnis Steglitz-Zehlendorf gegründet.“
Als letzter Berliner Bezirk ist nun Steglitz-Zehlendorf in das Bündnis eingetreten. Bereits im Juni 2019 hatte sich die Bezirksverordnetenversammlung einstimmig zur Bildung eines Alpha-Bündnisses ausgesprochen. Schon damals – noch als Bezirksbürgermeisterin – hatte Cerstin Richter-Kotowski sich als Schirmherrin dafür angeboten. Inzwischen stellvertretende Bezirksbürgermeisterin von Steglitz-Zehlendorf, löst sie nun dieses Angebot ein und gibt zu bedenken: „Auch in diesem Bezirk sind Lese- und Schreibschwierigkeiten kein kleines Problem. Wegsehen ist da keine Option. Vielmehr werden wir mit unserer bezirklicher Koordinationsstelle für Alphabetisierung mit ganzer Kraft für zu Beratende und Mitwissende da sein.“ Es gelte darüber hinaus, ein umfangreiches Netzwerk auszubauen an der Seite vieler engagierter Partner, die in diesem Bereich bereits breit aufgestellt sind. Kerstin Bolik, Koordinatorin des neuen Alpha-Bündnis, dessen Träger der Mittelhof e. V. ist, will Informationen zum Thema kontinuierlich in die Öffentlichkeit streuen und mit den weiteren Bündnissen in der Stadt in Verbindung bleiben, nach dem Motto: „Gemeinsam sind wir stark.“
Einig ist man sich im Bezirk, dass, um Betroffenen erfolgreiche Unterstützung leisten zu können, Unternehmen, Wirtschaft und Politik an einem Strang ziehen müssen. Mit gutem Vorbild ging Sozial-Bezirksstadtrat Tim Richter am Gründungstag voran und stellte Sensibilisierungslehrgänge für die Mitarbeiter im Bürgeramt in Aussicht. Und auch Ilona Weinen, Leiterin des Mehrgenerationenhauses Phoenix, kündigte Unterstützung aus eigenen Reihen an. So gibt es im Phoenix seit Mitte Oktober wöchentliche Ausfüllhilfen für Betroffene: Sie erhalten vor Ort Hilfe beim Ausfüllen von Formularen unterschiedlichster Art. Weitere unterstützende Bündnis-Partner sind u. a. das Stadtteilzentrum Steglitz, das bezirklichen Diakonische Werk, die Stadtbibliothek, die Bundesagentur für Arbeit mit dem Jobcenter sowie die Volkshochschule. Unterstützung aus dem Handwerksbereich und aus der Wirtschaft stehen auf der aktuellen Wunschliste der Bündnis-Partner ganz oben.
Alle am Alpha-Bündnis beteiligten Stadtbezirke werden in der Aufbauphase von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie mit einer Anschubfinanzierung gefördert. Ziel dieser lokalen Netzwerke ist – im engen Austausch mit engagierten Kooperationspartnern – die Schaffung von passenden Lernangeboten und einer lückenlosen Beratungsstruktur sowie das Erreichen und die Hilfe möglichst vieler Betroffenen.
Gerhard Prange war viel zu lange still. Bei der Gründungsveranstaltung im Gutshaus Steglitz schilderte der Ehrengast nun eindrucksvoll und mutig, wie er über die Jahre sein Lese- und Schreibdefizit trickreich und pfiffig zu verstecken wusste. Erst als eine Freundin ihn zum Monopoly-Spielen überredetet und er die gezogenen Karte nicht vorlesen konnte, kam das heraus. Dabei hatten einst widrige Umstände dazu geführt, dass Gerhard nur einzelne Wörter lesen und schreiben gelernt hatte: Sieben Geschwister, die Eltern konnten nicht helfen, zum Vorlesen oder Geschichten Erzählen fehlte daheim die Zeit. In der Grundschule desinteressierte Lehrer, letzte Bank, Sonderschule – die Schulkarriere von Gerhard. Und als er später in einer Reinigung arbeitete, brauchte er Lesen und Schreiben nicht. Dann die Ärztin, die ihm katastrophale Leberwerte bescheinigte. Das Versteckspiel hatte viel Kraft gekostet, Gerhard Ablenkung im Alkohol gesucht. Beim Jobcenter suchte und fand er vor 12 Jahren endlich Beratung und zum Alphabetisierungskurs. „Bis heute gehe ich wieder zur Schule“, scherzt der heute 65-Jährige. Stolz ist er auf seine Tochter, die als erste aus der Familie Abitur gemacht hat. „Dass ich ihr als Kind nie etwas vorlesen konnte, hat mich immer geschmerzt“, gesteht Gerhard Prange. „Doch jetzt kann ich ihr endlich Briefe schreiben“, sagt er, und das Strahlen auf seinem Gesicht verrät so viel mehr. Anderen mit seiner Geschichte Mut machen will er heute. Doch dazu hat er im Vorfeld erst einmal selbst viel Mut und Überwindung aufbringen müssen.
Auch Schriftsteller Sebastian Fitzek, der in Zehlendorf lebt, kann wortgewandt viel erzählen an diesem Eröffnungstag. Auf der Frankfurter Buchmesse war es, wo er unerwartet einen Stand zum Thema Alphabetisierung entdeckte und sich dann näher mit dem Thema beschäftigte. Heute ist er Schirmherr des Alpha-Selbsthilfe Dachverbandes und weiß um die beschränkte Teilhabe vieler Betroffenen am gesellschaftlichen und beruflichen Leben sowie um ihre tägliche Belastung. Unsichtbar bleiben viele von ihnen und erbringen dabei ungeheure Intelligenzleistungen, um ihr Defizit zu verbergen.
„Lange Jahre bin ich mit Scheuklappen durchs Leben gelaufen, das Thema hatte ich einfach nicht auf dem Schirm“, gibt der Autor zu. Doch dann habe er sich informiert und festgestellt, dass diese vermeintlichen Opfer mit Schreib- und Lesedefizit eigentlich wahre Helden sind: Tragen sie doch ein Geheimnis mit sich, lernen vieles auswendig, um mithalten zu können. – Wie die Kellnerin, die Fitzek kennengelernt hat: Sie konnte die gesamte Speisekarte mit Preisen auswendig. Und dann wird der Schriftsteller fast poetisch: „Immer weniger Menschen lesen, wo es doch so viele gibt, die es gerne täten, aber nicht können. – Welch Potential!“
So sind die Bezirks-Alpha-Bündnisse ein wichtiger Schritt Richtung Sensibilisierung der Öffentlichkeit zum Thema „Alphabetisierung und Grundbildung“ sowie Richtung Ausbau von Beratungsstrukturen für Menschen mit Lese-und Schreibschwierigkeiten.
Sie zu erreichen ist dabei ebenso wichtig wie die Tatsache, dass es falsche Scham ist, sich hinter seinen Schwierigkeiten zu verstecken. Schämen sollten sich vielmehr diejenigen Menschen, die um solche Defizite ihres Mitmenschen wissen, sich aber von ihm abwenden oder ihn gar verspotten anstatt ihm den Weg heraus aufzuzeigen.
Informationen zum Alpha-Bündnis Steglitz-Zehlendorf und seinem Angebot unter Telefon 0177 / 8 92 12 89 und E-Mail alphabetisierung@mittelhof.org
Jacqueline Lorenz
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