Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau Januar 2023
Die Industrialisierung im 19. Jahrhundert hatte viele Folgen für die Familien, die vom Land in die Stadt wanderten. In den Fabriken waren nicht nur die Männer gefragt, auch Frauen arbeiteten dort. Das brachte nach dem Wegfall der ländlichen Großfamilie ein Problem mit: Die Kinderbetreuung. Für Kinder ab etwa vier Jahren wurden die sogenannten „Kinderbewahranstalten“ geschaffen. Schon der Name lässt nicht viel Gutes für die Kinder ahnen.
Auch die jüngeren Kinder brauchten Betreuung, zudem sollte die hohe Säuglingssterblichkeit eingedämmt werden. So wurde die Kinderkrippe ins Leben gerufen. Sie sollte idealerweise drei Räume haben: einen für Säuglinge, einen für „Kriechlinge“ und einen für „Gehlinge“. In den Krippen wurden die Kinder nicht nur aufbewahrt, sondern auch gepflegt, so war in einer Krippe festgelegt, dass die Kinder „bei Bedarf, aber mindestens einmal täglich mit Wasser gereinigt und gekämmt“ werden sollten. Andernorts sollten die Kinder mindestens jeden zweiten Tag gebadet werden. Diesen Luxus gab es in den engen Arbeiterwohnungen nicht. Der Plan, dass Mütter Arbeitspausen dazu nutzen sollten, um ihre Säuglinge in der Krippe zu besuchen und zu stillen, dürfte häufig an der räumlichen Entfernung gescheitert sein. Aber auch zum Umgang mit den Kindern gab es Vorschriften. So bestimmte eine Krippe, dass sich die Kinderwärterinnen (!) davor hüten sollten, die Kinder zu häufig auf den Arm zu nehmen und zu tragen, da das so „verwöhnte“ Kind dasselbe dann von der Mutter verlangen würde.
In Berlin wurde 1869 der erste Krippenverein gegründet. Hier konnten Kinder im Alter von sechs Wochen bis höchsten vier Jahren abgegeben werden. Finanziert wurde der Verein von vermögenden Fabrikbesitzern. 1888 übernahm die Kaiserin Friedrich für einige Jahre das Patronat, 1901 wurde es von Kaiserin Auguste Viktoria übernommen. 1907 – 1908 erbaute der Berliner Krippenverein ein eigenes Haus in der heutigen Barbarossastraße 62/Karl-Schrader-Straße 9 – 10. Ein Teil des heute denkmalgeschützten Gebäudes war von Anfang an als Mietshaus konzipiert. In dem Krippenhaus wurden nicht nur Säuglinge und Kleinkinder betreut, sondern auch Säuglingspflegerinnen ausgebildet und untergebracht. In dem Haus war auch die Geschäftsstelle des Vereins untergebracht. In den 1920er-Jahren wurde es zu einer Säuglingsheil- und Pflegeanstalt. Zusätzlich zogen mehrere private Kliniken ein. Heute wird das ehemalige Krippenhaus vom Nachbarschaftsheim Schöneberg genutzt.
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