Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau Februar 2023
Seit über 10 Jahren gibt es in der Niebuhrstraße 59/60 einen sicheren Ort, an dem Homo- und Bisexuelle sowie inter- und transgeschlechtliche Menschen Beratung und Hilfe erhalten, und an dem sie sich ganz nach ihrer Fasson Mensch sein dürfen. An diesem Lebensort Vielfalt in Charlottenburg befindet sich nicht nur der Sitz der Zentrale der Schwulenberatung Berlin, sondern bieten auch ein Mehrgenerationenhaus mit 24 Wohnungen sowie eine Pflege-Wohngemeinschaft geschützten Raum für schwule Männer. Rund 60 Prozent von ihnen sind im Alter über 55 Jahren, doch auch einige Frauen und jüngere schwule Männer haben hier eine Heimat gefunden. Ein Extra-Eingang zum Wohnkomplex sichert ihre ungestörte Privatsphäre, während nebenan in der Zentrale die Tür für alle weit offen steht.
Es war ein konsequenter Weg bis zum Lebensort Vielfalt, der in diesem Jahr am Südkreuz in Schöneberg für LSBTI*-Menschen einen weiterer Ort für Toleranz, Akzeptanz und Integration erhalten wird und dabei auf Begegnung der Generationen und Kulturen im nachbarschaftlichen Miteinander setzt.
1981 hatte in der Hollmannstraße in Kreuzberg das „„Kommunikations- und Beratungszentrum homosexueller Frauen und Männer“ (KBZ) als Informationspunkt für das Homo-Leben in West-Berlin eröffnet, das seine Aufgabe sowohl in der Beratung von Schwulen und Lesben als auch in der Aufklärung von Heterosexuellen über gleichgeschlechtliche Lebensweisen sah. Nachdem sich das Zentrum in der Kulmer Straße in Schöneberg mit mehr Raum weiterentwickelt hatte, kam es 1993 – nicht zuletzt wegen des Anstiegs der finanziellen Zuwendungen für die Aidsarbeit und die damit verbundene schwierig gewordene Aufteilung der Gelder zwischen Schwulen und Lesben – zur Trennung von Lesben- und Schwulenberatung vom gemeinsamen Trägerverein KBZ e. V., der nun als Bildungseinrichtung KomBi zuständig für die Bildungsarbeit wurde.
1996 zog die Schwulenberatung Berlin in die Mommsenstraße 45 nach Charlottenburg, wo sie mit neuen Beratungs- und Unterstützungsangeboten andere Finanzierungsmöglichkeiten fand. Zwei Jahre später konnte sie die bundesweit erste therapeutische Wohngemeinschaft speziell für schwule Männer mit psychischer Beeinträchtigung eröffnen, nur ein Jahr später bereits eine zweite.
1999 dann übernimmt die Schwulenberatung Berlin die Aidsberatung Pluspunkt in Prenzlauer Berg, die seit 1989 erste eigenständige Aidshilfe-Einrichtung Ostberlins. Ein Jahr später erkennen die deutschen Rentenversicherungsträger und Krankenkassen die Schwulenberatung Berlin als ambulante Einrichtung für Suchttherapie an. 2001 eröffnet sie die erste therapeutische Wohngemeinschaft für suchtkranke schwule Männer. Schon bald bietet die Schwulenberatung 16 Plätze im Betreuten Einzelwohnen, welches HIV-infizierte Menschen darin unterstützt, zu Hause ein trotz Krankheit eigenständiges Leben zu führen. Darüber hinaus organisiert sie erstmals Qualifizierungsmaßnahmen für Menschen mit HIV und Aids, finanziert über Mittel aus dem Europäischen Sozialfonds. Mit der Gründung des Projekts manCheck im Jahr 2002 kann vor-Ort-Arbeit in der Berliner Schwulenszene geleistet und sinnvolle Prävention geboten werden.
Der Unterstützung älterer schwuler und bisexueller Männer will sich die Schwulenberatung Berlin nun verstärkt widmen und knüpft mit diesem Ziel das Netzwerk AndersAltern.
2004 schließlich startet sie die Betreuung schwuler Männer mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung im eigenen Zuhause, wofür ein Angebot von 20 Plätzen Betreuten Einzelwohnens in Zusammenarbeit mit der Berliner Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales geschaffen wird.
Drei Jahre später, 2007, wandelt sich die Schwulenberatung Berlin – nicht zuletzt um ihre Weiterentwicklung zu erleichtern – in eine gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbH). – Das Hausprojekt in der Niebuhrstraße nimmt Form an und fordert viel Energie und Einsatz: Ist hier zuerst lediglich eine Wohngemeinschaft für ältere schwule Männer geplant, entwickelt sich der „Lebensort Vielfalt“ zum zentralen Punkt der Schwulenberatung Berlin.
Um das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) zu beleben, wird die Schwulenberatung Berlin vom Land Berlin beauftragt, die AGG-Beratung zu koordinieren. – Unter Zusammenarbeit mit der Lesbenberatung, dem Sonntags-Club und dem Lesben- und Schwulenverband Deutschland (LSVD). Im Oktober 2008 veranstaltet die Schwulenberatung Berlin den Kongress „Schwule Männer im Alter“. Die Anzahl von Plätzen im Betreuten Wohnen für HIV-Betroffene kann gesteigert werden, das neue Projekt „Queer Leben“ schafft Plätze Betreuten Wohnens für transsexuelle Erwachsene und ambulante Hilfe für transsexuelle Jugendliche in Kooperation mit Trialog e. V.
Mit der 2009 vom Berliner Abgeordnetenhaus gestarteten Initiative „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und Akzeptanz sexueller Vielfalt“ (ISV) erhält die Schwulenberatung Berlin den Auftrag, gemeinsam mit seinen Kooperationspartnern das Projekt „Jo weiß Bescheid! Homo – Trans* – Arbeitsplatz“ durchzuführen sowie Fortbildungen für Psychologen und Therapeuten zu organisieren.
2010 wird von der Schwulenberatung Berlin ein neuer Standort in der Mussehlstraße in Tempelhof bezogen. Nun arbeiten 75 Angestellte für die Schwulenberatung Berlin. Weitere angegliederte Standorte sollten bald folgen.
Im Dezember 2010 dann beginnt der Umbau des Hauses in der Niebuhrstraße 59/60 zum Lebensort Vielfalt. Die ersten Mieter können die Schlüssel für ihre neuen Wohnungen Anfang Mai 2012 im Lebensort Vielfalt, dem neuen Mehr-Generationen-Haus der Schwulenberatung Berlin, in Empfang nehmen, erste Bewohner der Wohngemeinschaft für pflegebedürftige und demenzkranke schwule Männer beziehen ihre Zimmer. Kurz darauf wechselt auch die Schwulenberatung Berlin in die neuen Räumlichkeiten, die im Juni 2012 mit vielen Ehrengästen eingeweiht werden. Ein Jahr später erhält die Schwulenberatung Berlin den HIV Community Preis für ihre innovative Idee zum intergenerativen und lebensformerhaltenden Wohnen.
Inzwischen unterhält die Schwulenberatung Berlin etliche Wohngemeinschaften, in denen längst nicht nur Deutsch gesprochen wird. Und neben dem barrierefreien Haus in der Niebuhrstraße stehen auch ein Haus in Kreuzberg und eines in Neukölln den Suchenden offen. Ein breites Beratungs- und Fortbildungsangebot vom Couchgespräch im Café Wippe über die queere offene Suchtgruppe bis hin zur Rentenberatung verspricht Begegnung, Kontakt, Information – dabei immer Toleranz und Akzeptanz. Inzwischen zählt die Schwulenberatung Berlin 190 festangestellte Mitarbeitende. Neben der Niebuhrstraße befindet sich aktuell auch am Ostkreuz ein Lebensort Vielfalt.
Seit 20 Jahren erfahren in Sozialarbeit und Management dabei ist Marcel de Groot als Geschäftsführer in der Niebuhrstraße. Er betont, was für ihn und dieses Haus besonders wichtig ist: „Die Zielgruppe, die an diesen Ort kommt, soll ganz sie selbst sein dürfen, ohne sich in irgend einer Weise erklären zu müssen.“ Jeder sollte unbelastet den Weg zu diesem toleranten Lebensort finden. Dabei sei Einsamkeit auch hier ein großes Thema: Wenden sich doch sogar heute noch Familien von ihren Angehörigen ab, wenn diese mit der von ihnen gewählten Lebensform nicht ins eigene Bild passen. In der Niebuhrstraße finden die Menschen Seminarangebote, strukturierte Hilfe und stets offene und verständnisvolle Ohren für ihre Anliegen. Anliegen, die de Groot gern mehr in Schulen und von Ausbildern zur Sprache gebracht sähe, – zur Überwindung von Vorurteilen und für mehr Toleranz und Vielfalt.
Einladend das Foyer des Hauses in der Niebuhrstraße mit seiner harmonischen Farbgestaltung. An der Decke Männer-Studien auf Styropor von Hand des Künstlers Klaus Becker geschaffen, der am Lebensort Vielfalt sein Zuhause gefunden hat. „Komm näher“ scheinen seine Figuren zu sagen und rät dieser besondere Lebensort Vielfalt dem Besuchenden.
Währenddessen befindet sich der Bau des neuen Lebensort Vielfalt am Südkreuz in Schöneberg in seiner Endphase. 69 geförderte und freie 1-4 Zimmer-Wohnungen, Gemeinschaftsräume, Pflege-/Wohn- und Therapeutische Gemeinschaften, Beschäftigungstagesstätte, Kindertagesstätte und Büro- und Beratungsräume für die Schwulenberatung Berlin sollen hier in diesem Jahr einziehen. Mit dem Ziel, mit einem Mehrgenerationenhaus für LSBTI*-Menschen eine Verbesserung der Infrastruktur und einen Ort ohne Angst vor Ausgrenzung aufgrund der sexuellen oder geschlechtlichen Identität zu schaffen. Ein offenes Haus für den Kiez soll entstehen, in dem die künftigen Bewohner ihr Zusammenleben gemeinsam gestalten. – Eine gelebte Nachbarschaft, in der Wahlfamilien und Freundeskreise bei Problemen helfen und Einsamkeit überwunden werden kann. Dabei soll Älteren die Möglichkeit zum Rückzug in die eigene Wohnung gegeben sein. Mit Dachterrassen, Café und Restaurant sowie einem Kiezzentrum will die Schwulenberatung Berlin als Initiatorin und Betreiberin des Bauprojektes allen hier zukünftig Wohnenden verschiedenen Alters und unterschiedlicher Kulturen – verbunden durch gemeinsamen Innenhof – viel Lebenswertes bieten: So soll ein lebendiges Haus entstehen, in dem Menschen zusammenleben, arbeiten und sich wohl fühlen.
Weitere Informationen zum Angebot der Schwulenberatung Berlin und den Lebensorten Vielfalt sowie Spendenformular und Kontakt unter www.schwulenberatungberlin.de
Jacqueline Lorenz
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