Erschienen in Wannsee Journal Juni/Juli 2023
Wannsee besitzt viele künstlerisch reizvolle Orte: Unweit von Mutter Fourage und der Galerie Contemporary bietet am Wilhelmplatz das private Kalligraphie-Atelier mit Papierwerkstatt von Renate Nöh ganz besondere künstlerische Unikate sowie an der Kunst des Schönschreibens Interessierten die Möglichkeit, dieses Handwerk unter fachkundiger Anweisung von Anfang an zu erlernen.
In der Nachkriegs-Schulzeit von Renate Nöh war „Schönschrift“ noch Unterrichtsfach. Während das heutige Schul-Schönschreiben lediglich leserlich zu schreiben lehrt, lernte Renate damals noch „Sütterlin“ – eine von Ludwig Sütterlin entwickelte Ausgangsschrift für das Erlernen von Schreibschrift in der Schule – und andere anspruchsvolle Kunstschriften kennen. Während ihres späteren Berufslebens war sie eher kaufmännisch unterwegs, schwelte tief in ihr aber stets eine besondere Liebe zu Handwerk und Kreativität. Als ihr die Tochter dann vor 22 Jahren ein erstes kleines Kalligraphie-Set schenkte, fing diese Liebe Feuer. Um nun die Künstlerische Schönschrift von der Pike auf zu erlernen, belegte sie einen Kurs an der Volkshochschule Spandau, wo sie in sieben Semestern erste Grundlagen der Künstlerischen Schönschrift erlernte. Dass sie dabeiblieb, ist nicht zuletzt ihrem damaligen Dozenten Heinz Schatzlmaier zu verdanken. „Er lehrte mit unsagbarem Herzblut“, erinnert sich die Hobbykünstlerin. Der bekannte Maler und Grafiker, der in 13 Semestern an der Hochschule der Künste die Geheimnisse des Schriftschreibens studiert hatte, gab sein Wissen in den VHS-Kursen so überzeugend weiter, dass Renate die Begeisterung für die Kalligraphie nicht mehr los ließ. „Mit diesem Hobby konnte ich schon damals wunderbar den Kopf frei bekommen“, erzählt sie, die sogar ein Gastsemester an der FH Potsdam nahm. Als Mitglied der Kalligraphiegruppe SCHRIFTartBERLIN und den regelmäßig dort lehrenden Spitzen-Dozenten bildete sich Renate Nöh von 2009 bis 2016 kontinuierlich weiter und lernte etliche Gleichgesinnte kennen. Zahlreiche Workshops in In- und Ausland folgten, bis sie 2014 im Souterrain des Familienhauses an der Kohlhasenbrücker Straße in Wannsee ihr erstes Atelier einrichtete.
weiß Renate Nöh, und entwickelt sich so unermüdlich in dieser besonderen Kunstform weiter, die bis heute für sie nichts von ihrem ursprünglichen Reiz verloren hat: So reist sie jährlich zu Workshops und Seminaren renommierter Ausbildungsstätten, von Sylt bis in den Tessin. Und wie ihr erster Dozent Schatzlmaier gibt auch sie inzwischen ihr Wissen „von der Pike auf“ an Kalligraphie-Begierige in ihrem Atelier weiter, im 6er-Kurs mit Schnupperstunde ab 150 Euro. Dabei konzentriert sie sich auf die Schriften „Humanistische Kursive“ als Urform der lateinischen Schreibschriften, die während des Renaissance-Humanismus in Italien entwickelt wurde, auf „Unziale“, eine Majuskelschrift, die wahrscheinlich aus der älteren römischen Kursive entstanden ist, auf „Antiqua“ als Schriftgattung der ab 1470 für den Buchdruck entstandenen, gut lesbaren Satzschriften des lateinischen Alphabets mit Groß- und Kleinbuchstaben (Versalien und Minuskeln), die heutzutage die Standard-Schriftgattung für Mengentext ist, und auf „Römische Kursive“, die als ältere römische Kursive oder Majuskelkursive – selten auch Capitalis Cursiva – eine Kursivschriftvariante der antiken römischen Capitalis-Schriftfamilie ist.
Doch nicht nur Tinte und Feder, schöne Texte, Farben und Formen haben Renate Nöh in ihren Bann gezogen, auch die Papierkunst hat es ihr angetan. 2015 verband sie ihr Kalligraphie-Atelier mit einer Papierwerkstatt. Alte Bücher und Papier jeder Stärke verarbeitet sie nun in unterschiedlichsten Techniken für ihre ebenso feine wie vielfältige Papierkunst. Die beinhaltet – leicht wirkend, aber dennoch beständig – besondere Faltarbeiten und Collagen, und wird von der Künstlerin oft mit Texturen vervollständigt.
Keine Massenproduktion, nur Unikate verlassen das Atelier, das Renate Nöh dem Besucher auf Voranmeldung sowie regelmäßig am „Tag des offenen Ateliers“ öffnet.
Buchbinde- und Auftragsarbeiten gehören ebenso zu ihrem Angebot wie die Erstellung kalligraphisch gestalteter Karten für jeden Anlass.
Während im Treppenhaus von Renate Nöh faszinierende Kalligraphie-Arbeiten die Wände schmücken, zeugt die Ausstellung ihrer vielfältigen Kunstwerke im Souterrain vom Einfallsreichtum und Können der Hobbykünstlerin: winzige Büchlein, in filigraner Faltarbeit von ihr erstellt, Täschchen und Mappen, Mäppchen in Papier oder Filz, gefaltet, liebevoll verziert mit Muscheln und Fundstücken aus der Natur oder mit Texturen, auf jeden Fall aber liebevoll kreierte Einzelstücke, die ein ganz besonderes Geschenk für jeden Anlass sein können.
Weiter geht´s ins Atelier, das mit Schrifttafeln an den Wänden, seinen Pinseln, Federn, unzähligen Tintengläschen und Papieren zu rufen scheint: „Konzentration – hier wird gearbeitet!“ Gerade arbeitet Renate Nöh eine alte Tischplatte mit Papier auf, klebt, schreibt, malt, verändert. „Das Objekt entwickelt sich während meiner Arbeit weiter“, erklärt sie und weiß oft nicht, wie das fertige Exponat einmal genau aussehen wird.
Kalligraphie ist – wenn auch in Mode gekommen – viel mehr als ein schnelles Hobby, das man nur nebenbei betreibt. Renate Nöh dazu: „Ruhe und Konzentration kommen dabei der Meditation gleich.“ Kontinuierliches und am Anfang schier endloses Üben ist unverzichtbar, um mit sicherer, aber lockerer Hand schließlich die gewünschte Form mit dem richtigen Schwung aufs Papier bringen zu können.
Auch hier gilt: Noch kein Kalligraphie-Meister ist vom Himmel gefallen und das Erstellen einer gelungenen Kalligraphie zeitintensiv. Dabei ist die Kunst des Schönschreibens immer weiter ausbaufähig. Die Kurse von Renate Nöh buchen überwiegend Frauen im gesetzten Alter, männliche Kalligraphen findet man eher unter den Dozenten. Anfangs reichen als Grundausstattung ein normaler Block und Schultinte, später sind Tinten und Papier mit ihren jeweiligen Eigenschaften aufeinander abzustimmen. Das Angebot an Kalligraphie-Zubehör im Fachhandel ist groß und vielfältig. Als gebräuchliches Kalligraphie-Schreibwerkzeug dienen Federhalter und Feder, aber auch mit Strohhalm, Federkiel oder Stein kann man schreiben, wie Fachfrau Renate betont. So hat sie in einer Schule Kindern gezeigt, was man mit Strohhalm, einer Feder und Tinte, aber auch mit Tee, Kaffee oder Rotwein als Tinten-Ersatz so alles machen kann. – Zur Anregung der Phantasie durchaus auch für den Kunstunterricht anderer Schulen empfehlenswert.
Spielt die für die Kultur des Menschen einst so wichtige Kalligraphie heute im Materialisieren von Sprache und Gedanken auch keine nennenswerte Rolle mehr, findet sie doch privat, in der Kunst und im Grafikdesign Anwendung – beispielsweise bei der Entwicklung von Wortbildmarken oder bei der Beschriftung von Urkunden. Als niveauvolles, entschleunigendes Hobby aber hat sie unzählige Freunde. – So wie Renate Nöh, die mit großer Freude sich weiterhin der Kalligraphie widmen, ihre eigene Expressivität dabei ausbauen und noch vielen Interessierten erste Schritte hin zur Kunst des Schönschreibens weisen will.
Weitere Informationen zum Atelier und Angebot von Renate Nöh unter www.rn-kalligraphie-berlin.de
Jacqueline Lorenz
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