Erschienen in Gazette Zehlendorf Juni 2023
„Da du da Dumdum dädididi?“ „Hä?“ „Hast du das Mundstück desinfiziert?“
– Parodie der Kunst und Perlen der Klassik reichen sich am 24. Juni 2023 um 18 Uhr im Bürgersaal Zehlendorf, Teltower Damm 18, die Hand: Mit seinem durchkomponierten halbszenischen Werk, dem Oratorium „Dada Gaga Tamtam“, will der zeitgenössische Komponist Vincent Sebastian Andreas gemeinsam mit dem Kammerchor Nikolassee sowohl musik- und kunsterfahrene Menschen erreichen, als auch alte und junge weniger regelmäßige Konzertbesucher an die Musik heranführen, auf jeden Fall aber will er der Kunst aufgeschlossene Menschen ansprechen. Gleichzeitig lässt er mit wohldosiertem musikalischen Augenzwinkern ein flammendes Plädoyer für die gerade heute so unverzichtbare Kunst erklingen. Der Eintritt dazu ist frei, die ein oder andere Spende aber durchaus willkommen. Das Konzert in Zehlendorf ist im Rahmen von NEUSTART AMATEURMUSIK gefördert.
Komponiert wurde das in zwei Teilen abendfüllende Dada-Spektakel kurz vor der Pandemie und kann nun endlich zur Uraufführung kommen.
Schon während der Proben, die im Berliner Südwesten und in Kreuzberg stattfanden, zeigte sich das großangelegte Potential des Werkes: „Ist hier eine Königin von Saba?“ tönt es da durch den Probenraum, „verdammte Hacke“ ruft die Königin von Saba – äh, Dada – zurück, unterstützt von einem Haushaltsgeräte-Orchester, dessen erste Konzertmeister Topfdeckel, singende Säge und Japanische Trommel sind. Tierischer Ernst ist hier fehl am Platz, dafür ist deutlich spürbar bei allen Beteiligten der Spaß an der Sache und am konzentrierten Proben. Chorleiter und Komponist Vincent Andreas hält dabei die Fäden fest in der Hand, lässt aber dem 36-köpfigen Chor, dem Haushalts-Orchester und den angeschlossenen Künstlern genügend Entfaltungsraum zur gelungenen szenisch-musikalischen Malerei.
Mit seiner Musik integriert er weitere Künste und nimmt sie scherzhaft aufs Korn. Nichts bleibt verschont: Literatur, bildende und darstellende Kunst in Form von Theater, Musiktheater und Tanz – sie alle bekommen spielerisch ihr Fett ab. Dazu hat Andreas zwei Texte als Melodram in seine Partitur eingearbeitet: Den dadaistischen Roman „Ritter Kriegsbart“ von Simon Weinert und das bereits Sprache und Bild umfassende Projekt „Die Vampyrlady sah nicht immer so scheiße aus“ des Künstlerehepaares Ulrike und Günther-Jürgen Klein. Das Autorenpaar rezitiert seine Texte „Volkstata“- und „Zwitschermaschine“- erfahren selbst und wirkt in den verschiedenen dada-gagaistischen Performances mit.
Im Zentrum der Inszenierung steht als Kunstobjekt an sich ein giganto-gaga-manisches Tamtam. Erweitert wird es um weitere Objekte des Künstlerehepaar Klein, darunter das verehrte und angebetete Tamtam-Totem des Trumptrump. Das Totem soll zeigen, was die Stunde geschlagen hat, wäre da nicht der Oberste Diener des Großen Tamtam, der immer wieder seinen Schlägel verliert. So ist das Tamtam Dada UND Gaga und verbindet alles vom Kammerchor Nikolassee zu Gehör Gebrachte – egal ob die Dudel-Dödel (Zauberflöte), die Ankunft der Königin von Dada (Die Ankunft der Königin von Saba) oder Beethovens Fünfte im Zusammenspiel mit der Kunstpeitscherin Die Dodo-Mimi-Nada.
Und wie es sich für ein Oratorium nach der Heiligen Schrift gehört, wird auch das Dada-unser gebetet. – Viel Krach um nichts? – Ganz im Gegenteil!
Angefangen hatte eigentlich alles im Schulchor des Werner-von-Siemens-Gymnasium in Nikolassee. Schon damals waren sich etliche Chorsängerinnen und -sänger mit Vincent Andreas – alles spätere Gründer des Kammerchor Nikolassee – einig: Auch nach dem Abi muss das Chorleben weitergehen. Als einziger des Jahrgangs studierte Andreas Komposition und Schulmusik an der HdK Berlin und wurde 1992 Chorleiter des neugegründeten Kammerchor Nikolassee. „Geprobt wurde in gut erreichbaren Kirchen und Räumlichkeiten innerhalb des S-Bahnrings“, erinnern sich langjährige Chormitglieder.
Vincent Andreas komponierte u. a. für das Ensemble Modern, das Boris-Blacher-Ensemble und den RIAS-Kammerchor. Er schuf szenische Stücke für den Meisterkurs Junge Opernkomponisten in Rheinsberg, Filmmusiken in Zusammenarbeit mit dem DEFA Filmorchester Babelsberg sowie Kompositionen für den Berliner Sängerbund in der Berliner Philharmonie. Immer wieder dirigiert er musikalische Opern- und Operetten-Projekte der Kleinen Oper am See (Bodensee) und ist erfolgreicher Autor von Prosatexten, Hörspielen, Filmdrehbüchern sowie von Kinder- und Jugendbüchern.
Mit ihm als Chorleiter und Komponist an der Seite hat sich der besonders im Bereich zeitgenössische Musik vielseitige Kammerchor Nikolassee e. V. in über dreißig Jahren mit außergewöhnlichen Programmen und regelmäßigen Aufführungen ein festes Publikum in Berlin geschaffen. Er tritt mit seinem breiten Repertoire, das von konzertanten Singspielen über a Capella Chor bis zu bearbeiteten Requiems und Chor-Opern von Vincent Andreas reicht, u. a. in der Philharmonie Berlin, im Kammermusiksaal und im Konzertsaal der UdK auf.
2019 verzeichnete der Chor im Kunstquartier Bethanien einen besonders großen Erfolg mit der Bearbeitung von J. S. Bachs Wohltemperiertem Klavier für Chor, Schlagzeug, Klavier – und Schreibmaschine.
Übrigens: Als Geburtsstunde des Dada gilt das Jahr 1916, mitten im Ersten Weltkrieg.
Damals hatten sich in Zürich junge Künstler zusammengetan, dem Irrsinn der Welt und dem europäischen Kriegsgeschehen ihre Kunst bzw. Parodie der Kunst entgegenzusetzen.
Heute, über 100 Jahre später, will der Kammerchor Nikolassee dem aktuellen Irrsinn unserer Welt – mit der Aufführung dieses Oratoriums auf den klassischen Dada zurückgreifend und ihn erweiternd – seinen eigenen Stil entgegensetzen. Dazu liefert die heutige Zeit mit viel Gaga und noch mehr Tamtam reichlich Stoff.
Wer das Konzert in Zehlendorf am 24. Juni 2023 nicht besuchen kann, hat Gelegenheit, dies in Kreuzberg nachzuholen: Am 1. Juli um 19 Uhr und am 2. Juli um 16 Uhr finden dort weitere Aufführungen des Oratoriums statt im Kunstquartier Bethanien Studio 1, Mariannenplatz 2.
Weitere Informationen unter www.kammerchor-nikolassee.de
Jacqueline Lorenz
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