Vergessene Friedhöfe und Kirchen
Buch erinnert an wenig beachteten Teil der Stadtgeschichte
Erschienen in Wannsee Journal Oktober/November 2023
Christian Simon, Autor und Doktor der Geografie, widmet sich in seinem neuen Handbuch fast vergessenen Friedhöfen und Kirchen mit ihren Hilfseinrichtungen und staatlichen Institutionen im gesamten Berliner Stadtgebiet und präsentiert damit dem an Stadtgeschichte Interessierten ein anschauliches Nachschlagewerk mit überraschenden Aspekten. 160 Begräbnisplätze, Friedhöfe und Kirchhöfe sowie über 110 Kirchen und Kapellen der Stadt behandelt der geschichtskundige Autor darin, der seit 25 Jahren mit seinen Arbeiten Historie anschaulich macht und hier gut verständlich darstellt. 14 historische Karten und 25 Kartenskizzen sowie148 historische Abbildungen und zeitgenössische Fotos sind dem Buchtext angefügt, die einen wenig beachteten Teil der facettenreichen Stadtgeschichte vor Augen führen und Lust darauf machen, auf deren fast verschwundenen Spuren zu wandeln. Als ehemaliger Stadtführer weiß Simon, worauf es bei einem hilfreichen Nachschlagewerk ankommt und erleichtert über genaue Adressenangaben die Orientierung beim Suchen. – Denn viele der im Buch aufgezeigten Friedhöfe und Kirchen sind längst verschwunden, von Straßen und Gebäuden überbaut.
In doppelter Weise bereitet das Nachschlagewerk dem Neugierigen Freude: Beim vorbereitenden Lesen ebenso wie beim anschließenden Erkunden dieser erinnerungswürdigen Friedhöfe und Kirchen vergangener Tage, von denen allein 35 in den heutigen Bezirken Charlottenburg-Wilmersdorf, Steglitz-Zehlendorf und Tempelhof-Schöneberg Geschichte schrieben.
Ausgewählt vom Autor wurden vor allem christliche, kommunale, aber auch jüdische Begräbnisstätten sowie eine muslimische. Vorzeitliche Gräber und nur teilweise geschlossene Friedhöfe wurden in das Buch nicht aufgenommen, dafür aber bei Redaktionsschluss 2023 geräumte noch vorhandene, sich in Auflösung befindende oder kurz vor der Schließung stehende Friedhöfe.
Kirch(hof)-Schicksale
Wer weiß eigentlich, dass im 19. Jahrhundert in sogenannten abschließbaren Kirchparks Nachbarschaftstreffpunkte auf dem Gottesacker nichts Ungewöhnliches waren? – Mit Spielecken für die Jüngsten und mit eigenem Tisch, Bänkchen und Kommode, die angekettet am Baum in freundlicher Nachbarschaft mit den ruhenden Toten auf ihre Besitzer warteten. Im Schatten der efeuüberwucherten Grabstätte der Muhme wurde da manch Abendessen und Fläschchen Bier froh genossen – und dabei der Toten gedacht.
...in Charlottenburg
Und wer kann sich noch daran erinnern, dass es auf dem Messegelände am Funkturm einen Friedhof gab? – 1945 auf Befehl der Sowjetischen Besatzungsmacht zur Beerdigung der vielen bekannten und unbekannten Kriegstoten südwestlich des Sommergartens eingerichtet, war der Friedhof bis 1950 voll belegt – und störte die vorgesehene Wiedernutzung des Messegeländes. 4.066 Verstorbene wurden 1952 daher auf die neue, 1975 mit Krematorium ausgestattete Friedhofsanlage in Ruhleben umgebettet.
...Wilmersdorf
Und dass die heutige Auenkirche an der Wilhelmsaue Wilmersdorf bereits der dritte Kirchbau an dieser Stelle ist, weiß auch kaum jemand: Wurde die erste Kirche 1765 durch einen Brand zerstört, ersetzte man das 1766 neu errichtete Gotteshaus bereits 125 Jahre später durch den Bau der heutigen Auenkirche. Schon damals äußerte man sich kritisch zum „unreinen“ und schlecht erhaltenen sowie kaum noch Raum für neue Gräber bietenden dortigen Kirchhof. 1898 wurde er geschlossen und dafür ein neuer Friedhof auf dem heutigen Habermannplatz angelegt.
...Steglitz
Und auch in Steglitz gibt es Erinnerungsorte der Kirch(hof)kultur: Die 1966 errichteten Mehrfamilienhäuser in der heutigen Lörracher Straße 5-6A lassen kaum erahnen, dass hier das 1890 durch Karl Fürst zu Loewenstein gegründete und zuerst vom Dominikanerinnen-Stift als „Reconvalescentenheim“ für ältere Menschen betriebene katholische St. Annastift mit angeschlossener Kapelle stand. Im August 1943 wurde das seit 1930 inzwischen als Säuglings- und Kinderheim genutzte Stift vollständig zerstört, wobei die Priorin, zwölf Schwestern, neun Kinder und zwei Hausangestellte ums Leben kamen.
...Zehlendorf
Vom lärmenden Teltower Damm 270 aus führt ein kleines Tor den Ruhe- und Erinnerungsuchenden auf ein Friedhofs-Kleinod aus dem Jahr 1831: Die heute so verwunschen daliegende Grünanlage mit vereinzelten Grabsteinen und Friedhofcharakter war als Ergänzungs-Friedhof zum ebenfalls kirchlosen, 1819 auf der Dorfaue des kleinen Sackgassendorfes Schönow angelegten Kirchhofs errichtet und 1905 erweitert worden. Seit 1968 ist der Friedhof am Teltower Damm geschlossen. Hier liegen unter alten Grabsteinen im Kindbett gebliebene Mütter und der aus der Ferne nach Schönow heimgekehrte Sohn, überwuchert Efeu die Kriegsgräberstätte von 89 Kriegstoten aus letzten Kriegstagen des 2. Weltkriegs. Namentlich genannt von Michel Bendig bis Max Wolff auf schlichter Grabplatte, kamen sie alle in den Tagen um den 24. April 1945 um, als die sowjetische Armee in Zehlendorf den Teltowkanal überquerte und die dort vom Volkssturm besetzten Stellungen überrannte. Nun liegen in Schönower Erde 14-Jährige neben Greisen, junge Mädchen neben Großmüttern – alle mehr als nur einen Erinnerungsbesuch wert.
...Tempelhof
Westlich vom Sportplatz der Schule Sankt Hildegard in Marienfelde an der Malteserstraße 171A stehen die Klostergebäude des 1903-1905 von Katholischer Kongregation gegründeten Klosters „Vom Guten Hirten“. Wo einst der Nonnenorden das gefängnisähnlich von roter Backsteinmauer umgebene Mädchen-Erziehungsheim mit Bäckerei, Wäscherei und Gärten leitete, wurde nach der 1967 erfolgten Schließung der Einrichtung ein Seniorenheim und ab 1971 die St. Hildegard-Schule für behinderte Kinder untergebracht. Die Klosterkirche dient heute der neu gegründeten Pfarrei „Vom Guten Hirten“. Die westlich des Schulsportplatzes gelegene eingezäunte Grünfläche ist der ehemalige Klosterfriedhof. Zeitpunkte der Entstehung und der Einebnung dieses Begräbnisplatzes sind unklar, jedoch sollen 1996 dort noch 12 gleichförmige Grabkreuze mit Christogramm gestanden haben, und es gab 2019 noch einen Gedenkstein mit der Aufschrift „Ich bin der gute Hirt! Ich gebe mein Leben für meine Schafe!“
...und Schöneberg
Im heutigen Regenbogen-Kiez von Schöneberg stand an der Motzstraße 4 (früher 6) von 1903-1943 die Amerikanische Kirche. US-Amerikanische Gottesdienste für Studenten, Geschäftsleute und Gesandtschaftspersonal fanden seit 1859 meist in Privatwohnungen statt. Nachdem die ökumenischen und überkonfessionellen Gottesdienste immer wieder auf unterschiedliche Kirchen ausweichen mussten, lief seit etwa 1892 eine Spendenaktion für den Bau einer eigenen Kirche. Es gründete sich die „Amerikanische Vereinshaus GmbH“ zum Kauf eines Kirchengrundstücks. 1898 konnte schließlich das Grundstück an der Motzstraße vom Nationalökonomen Prof. Dr. Richard von Kaufmann erworben werden, und pünktlich am Thanksgiving Day am 26. November 1903 wurde die 400.000 Mark teure, von Otto March entworfene Kirche mit 400 Plätzen, Orgel neben dem Altar und weithin sichtbarem viereckigen Turm feierlich eingeweiht. Im 2. Weltkrieg wurde die Kirche 1941 geschlossen, 1943 von Bomben zerstört und der Turm am 24. März 1958 gesprengt. Nach einem langwährenden Provisorium in der Dorfkirche Zehlendorf konnte die „Amerikan Church Berlin“ 2002 die Lutherkirche am Dennewitzplatz in Schöneberg anmieten und die ökumenische, internationale Gemeinde die Kirche 2007 schließlich für ihre englischsprachigen Gottesdienste kaufen. Heute beherbergt sie Mitglieder aus 17 christlichen Konfessionen und mehr als 30 Ländern.
Der Autor
Christian Simon studierte an der FU Berlin Geografie, Politologie und Grundschulpädagogik. Er promovierte 2000 an der TU Berlin mit einem Berlin-Thema und
hat seit 1997 zahlreiche Publikationen zu Teilthemen der Berliner Geschichte vorgelegt. Seit 22 Jahren betreibt er einen Klein-Verlag für Bücher oder Hefte zur Berliner Historie. Über 25 Jahre arbeitete der Autor, der im Ortsteil Südende in Steglitz lebt, als Stadtführer.
Derzeit schreibt Simon für das Berliner Zentrum Industriekultur (bzi) an Band 4 der „Berliner Schriften zur Industriekultur Tempelhof-Schöneberg“, der sich u. a. mit dem Gaswerk Schöneberg, der Optischen Anstalt C.P.Goerz, der Malzfabrik, dem Teltowkanal mit Teltower Hafen, den Ufa-Filmstudios und den Askania-Werken beschäftigen wird.
Übrigens: Der Autor lädt am 8. November um 17.30 Uhr in die URANIA zum Vortrag mit Präsentation über sein Buch „Vergessene Friedhöfe und Kirchen in Berlin“.
Unter gleichem Titel steht seine Lesung mit Präsentation in der Stadtbibliothek Marienfelde am 28. November um 18.30 Uhr.
Jacqueline Lorenz