Erschienen in Gazette Charlottenburg November 2023
Styroporkreaturen klettern aus ihren Käfigen und besiedeln das Georg Kolbe Museum, Drahthummer befreien sich mit ihren Scheren aus der Gefangenschaft, Figuren, entstiegen aus antiken Sagen reflektieren in arabisch-sprachigen Poesien die enge Beziehung zwischen Tier und Mensch.
Die deutsch-irakische Künstlerin Lin May Saeed (1973 – 2023) beschäftigte sich gut 20 Jahren mit dem Leben von Tieren und ihrer Rolle in einer heute von Menschen dominierten Welt. Das Georg Kolbe Museum zeigt ihre erste museale Einzelausstellung in Deutschland. Mit Skulpturen, Reliefs, raumgreifenden Scherenschnitten und Zeichnungen erschuf die Bildhauerin eine neue Bildsprache der Solidarität und Koexistenz zwischen den Arten. In der Ausstellung tritt Lin May Saeeds Werk in einen künstlerischen Dialog mit Arbeiten von Renée Sintenis (1888 – 1965). Diese zentrale Bildhauerin der Moderne, Schöpferin des immer noch alljährlich zur Berlinale verliehenen Berliner Bären, suchte ihrerzeit ebenfalls nach einer Sprache und Abbildbarkeit des Wesens und der Ausstrahlung tierischer Geschöpfe. Renée Sintenis feierte ihren Durchbruch in den 1920er-Jahren mit kleinformatigen Tierskulpturen, von denen Lin May Saeed für die Ausstellung eine Auswahl traf.
Mit viel Einfühlungsvermögen, breiten kulturhistorischen Referenzen zu Märchen und Fabeln, aber auch mit Humor erzählt das Werk von Lin May Saeed alte und neue Geschichten von der Unterwerfung und Befreiung der Tiere und ihrem Zusammenleben mit den Menschen. Ein Pangolin (2020) ist eines der Styroportiere Saeeds, dessen Sockel gleichzeitig als Transportkiste dient und nun das ehemalige Bildhaueratelier im Georg Kolbe Museum bewohnt. Das im Zuge der Covid19 Pandemie zu trauriger Berühmtheit gekommene Schuppentier gehört zu den meistgeschmuggelten Tieren weltweit und ist vom Aussterben bedroht. Obwohl der Handel verboten ist, floriert der Schwarzmarkt, ist das Tier doch leichte Beute – so rollt es sich in Gefahrsituationen zu einer Kugel zusammen und kann leicht von Wildernden gefangen werden. In ferner Zukunft wird Lin May Saeeds Tierskulptur Pangolin jedoch noch bestehen. Denn anders als die klassischen Materialen der Bildhauerei, wie Bronze und Marmor, ist der von Saeed bevorzugte Werkstoff Styropor nicht biologisch abbaubar. So sah die Künstlerin das auf Erdöl basierende Material als Warnung in Anbetracht hochaktueller Umweltproblematiken, nutzte es gleichzeitig jedoch als emanzipatorisches Mittel, das auch ohne große körperliche Kraft leicht zu bearbeiten ist.
In den letzten 100 Jahren hat sich das gesellschaftliche Bild des Tieres stark gewandelt. Die in den 1970er-Jahren aufkommende Tierbefreiungsbewegung, von der Lin May Saeeds Ansatz beeinflusst ist, massenhaftes Artensterben oder die Rolle industrieller Massentierhaltung im Fortschreiten des Klimawandels verdeutlichen die besondere Aktualität und Dringlichkeit eines Um- und Neudenkens unserer Wahrnehmung von und unserem Umgang mit anderen Lebewesen. Die Ausstellung zeigt Skulpturen aus Styropor, Stahl und Bronze, Reliefs und ein Video, sowie Zeichnungen beider Künstlerinnen und wird begleitet von einem umfassenden Vermittlungs- und Rahmenprogramm zu Animalität, Tierethik und Tierrechten.
„Im Paradies fällt der Schnee langsam“ wird bis zum 25. Februar 1924 im Georg Kolbe Museum, Sensburger Allee 25, 14055 Berlin gezeigt. Informationen unter www.georg-kolbe-museum.de
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