Erschienen in Nikolassee & Schlachtensee Journal April/Mai 2017
Der Turm der blauen Pferde gilt als eines der Hauptwerke des deutschen Expressionismus und als zentrales Werk des Blauen Reiters. Schnell machte das Gemälde mit seinen dramatisch gestaffelten, blau durchleuchtenden Pferdeleibern Karriere. Während der Weimarer Republik avancierte es zu einer Art Kultbild einer aufgeschlossenen bürgerlichen Gesellschaft, die einerseits das tragische persönliche Schicksal des 1916 bei Verdun gefallenen Künstlers kannte und auf der anderen Seite die herausragende Qualität des Gemäldes schätzte.
Franz Marcs Gemälde wurde 1913 vorgestellt und 1945 beziehungsweise 1948/49 angeblich dreimal in Berlin gesehen bevor es verschwand. Das Meisterwerk des deutschen Expressionismus, hat als „entartete Kunst“ den Zweiten Weltkrieg offenbar überlebt. Unabhängig voneinander haben drei Zeugen behauptet das Bild im Frühjahr 1945 am Leipziger Platz, im späteren Haus am Waldsee sowie 1948/49 im benachbarten Anwesen des ehemaligen Polizeipräsidenten von Berlin, dem heutigen Haus der Jugend, gesehen zu haben.
Dieses Wiederauftauchen eines in der Weimarer Zeit hochpopulären Werkes wurde bis in die 1970er-Jahre von der Fachwelt weitgehend verschwiegen. Warum dies geschah, ist eine zentrale Frage, die die zeitgenössischen Künstler und Künstlerinnen in der Ausstellung VERMISST Der Turm der blauen Pferde von Franz Marc in Berlin neu stellen. In München liegt der Ausstellung der erhaltene Entwurf des Gemäldes in Form einer kolorierten Postkarte zu Grunde und die Frage, wie es zu dem Mythos um den Künstler und sein herausragendstes Werk kam.
In der Ausstellung im Berliner Haus am Waldsee geht es vor allem um den Verlust des Gemäldes, die Gerüchte um sein Verschwinden und das Schweigen der Nachkriegszeit. So denkt die Fotografien Johanna Diehl intensiv über dieses Schweigen nach, das sie anhand der eigenen Familiengeschichte wie durch einen trüben Schleier sichtbar macht. Andere erfinden neue Gerüchte oder sie kopieren das Werk, um es zu beschädigen (Norbert Bisky). Es gibt Künstler, die sich dem Thema Verlust als Leerstelle widmen (Arturo Herrera, Christian Jankowski) oder sich mit dem Moment des Todes des Malers auseinander setzen (Rémy Markowitsch, Birgit Brenner), der zum Mythos rund um das Bild beigetragen hat. Es geht um Staub, der auf die Geschichte gefallen ist, um Kontinuitäten von Weltanschauungen und um Schatten der Vergangenheit (Peter Rösel) oder um die Frage, was geschieht, wenn Der Turm der blauen Pferde sich plötzlich wieder zeigt (Via Lewandowsky). Eine Leuchtschrift im Freien erinnert daran, dass wir nie Gewissheit haben und alles immer auch ganz anders sein könnte (Tobias Rehberger). Bei Martin Assig wird ein inniges religiöses Gespräch in Gang gesetzt. Er bedient sich der vier apokalyptischen Reiter aus der Offenbarung des Johannes, um seine Geschichte über das Gemälde zu erzählen und bis zum flehentlichen „Komm, komm, komm“ die Trauer über den Verlust zu steigern.
Während von dem 200 mal 130 Zentimeter messenden Gemälde bis heute jede Spur fehlt, hat sich eine postkartengroße kolorierte Skizze erhalten, die Franz Marc kurz vor dem Jahreswechsel 1912/13 innerhalb Berlins an seine Dichterfreundin Else Lasker-Schüler schickte. Sie befindet sich seit den 1960er-Jahren als Depositum der Bayerischen Staatsgemäldesammlungen in der Staatlichen Graphischen Sammlung München.
„Vermisst – Der Turm der blauen Pferde“, 3. März bis 5. Juni im Haus am Waldsee, Argentinische Allee 30, 14163 Berlin. Öffnungszeiten: Täglich außer montags von 11 – 18 Uhr. Eintritt 7 Euro, ermäßigt 5 Euro, Familien 10 Euro. www.hausamwaldsee.de.
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