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Vom Acker zum Ortsteil

Die Entwicklung von Lichterfelde Ost

Das Bahnhofsgebäude wurde von Carstenn vorsichtshalber so konstruiert, dass es auch als Scheune nutzbar gewesen wäre.
Das Bahnhofsgebäude wurde von Carstenn vorsichtshalber so konstruiert, dass es auch als Scheune nutzbar gewesen wäre.
Erschienen in Lichterfelde Ost Journal April/Mai 2017
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Foto FrohloffAETKA Communication CenterZeit & Schmuck am KranoldplatzKosmetikpraxis Hautschicht

Ein bunter Markt, ein viel frequentierter Bahnhof, ein ruhiges Wohnviertel und viele Geschäfte – die Vorstellung, dass hier mal Ackerland und Wiesen waren, erfordert viel Fantasie.

Scheune oder Bahnhof

Die Vorhut bildeten die Bahngleise. Sie verliefen über die Wiesen und Äcker, die schon bald von Johann Anton Wilhelm Carstenn aufgekauft wurden. Bereits nahe seiner Heimatstadt Hamburg hatte der findige Investor eine Gartenstadt entwickelt und mit Gewinn verkauft. In dem Land vor der wachsenden Stadt Berlin erkannte er frühzeitig eine gute Möglichkeit, seine erfolgreiche Geschäftspolitik fortzusetzen. Doch dafür reichten Bahngleise nicht aus – schließlich sollten die künftigen Bewohner der neu zu schaffenden Villenkolonie nicht auf die Züge aufspringen müssen. Ein Bahnhof musste her. Das war nicht so einfach, denn die Bahn war nicht bereit, einen teuren Bahnhof zwischen Wiesen und Äcker zu bauen. Also kaufte Carstenn Land an der Bahn und baute den Bahnhof selbst. Das Eingangsgebäude wurde so gebaut, dass es auch als Scheune nutzbar gewesen wäre, wenn sich das Geschäft mit der Bahn zerschlagen hätte. Denn zusätzlich verlangte die Bahngesellschaft eine Garantie über einen Jahresumsatz von 600 Talern, wenn die Züge hier halten sollten. Der Bahnhof „Groß-Lichterfelde an der Bahn Berlin-Halle“ auf den Lichterfelder Feldern eröffnete am 20. September 1868. Doch der zugegebenermaßen etwas sperrige Name war von kurzer Dauer, denn am 1. Januar 1899 bekam er den Namen „Groß-Lichterfelde Ost“.

Anfänge der Bebauung

Dank der kurzen Fahrtzeit von 20 Minuten nach Berlin ließen sich die künftigen Bewohner von den Vorzügen der Villenkolonie überzeugen und die ersten Häuser entstanden in den Jahren 1871 bis 1873. Die ersten Parzellen waren schnell verkauft. Dann stagnierte das Geschäft, denn der Gründerkrach von 1873 forderte seinen Tribut. Einen richtigen Schub erhielt der Verkauf der Grundstücke mit dem Bau der Hauptkadettenanstalt, für die Carstenn das Grundstück zur Verfügung stellte. Diese zog viele Angehörige des Militärs nach Lichterfelde.

Geschäfte und Märkte

Die Bewohner der neu gebauten Häuser mussten auch versorgt werden und so eröffneten die ersten Geschäfte. Eingekauft wurde beispielsweise im Ost-Bazar am Jungfernstieg, dem Gegenstück des West-Bazars, der in Lichterfelde West gebaut wurde. Im Gegensatz zum West-Bazar steht der Ost-Bazar heute nicht mehr. Das „Gesellschaftshaus“ stand ebenfalls am Jungfernstieg. Dieses Gebäude ist ebenfalls verschwunden. Auch rund um den Kranoldplatz und am Oberhofer Weg wurde eingekauft. Dort sind viele alte Gebäude bis heute erhalten. 1908 fanden erstmals Märkte in Lichterfelde Ost statt. Sowohl der Kranold- als auch der Ferdinandmarkt bestehen bis heute.

Zwei Kirchen für Lichterfelde

Durch die neuen Einwohner wuchs auch die Zahl der Gläubigen. Die kleine Lichterfelder Dorfkirche und die Giesensdorfer Kirche waren auf einen derartigen Ansturm nicht eingerichtet. So beschloss die Kirchengemeinde, dass neuer Raum für die Kirchgänger geschaffen werden musste. Dazu baute sie gleich zwei neue Kirchen – die Pauluskirche neben der alten Dorfkirche am heutigen Hindenburgdamm und die Petrus-Kirche auf dem Oberhofer Platz – damals Wilhelmplatz. Der Entwurf für das Gotteshaus stammt von dem Regierungsbaumeister Goldbach, der Grundstein wurde im Frühjahr des Jahres 1897 gelegt. Die Einweihung erfolgte am 15. Dezember 1898. Damals waren die Bauzeiten noch kurz…

Carstenn hatte ursprünglich den Marienplatz für den Bau der zentralen Marienkirche vorgesehen. Dieser Plan wurde nicht verwirklicht und so legte man ihn er als Schmuckplatz an. Anfang der 50er-Jahre wurde er umgestaltet, 1983 jedoch nach historischem Vorbild wieder rekonstruiert. Seit der Wiederherstellung steht er als Zeugnis der Garten- und Landschaftsplanung in der Denkmalliste Berlin.

Erfinder und Erfindungen

Revolutionäre technische Neuerungen nahmen in Lichterfelde Ost ihren Anfang. Hier lebte der Flugpionier Otto Lilienthal in seinem Haus in der Boothstraße 17 und testete seine Flugapparate unter anderem auf seinem Fliegeberg an der heutigen Schütte-Lanz-Straße. Die Firma Siemens & Halske legte auf der früheren Trasse, auf der Baumaterial für die Hauptkadettenanstalt befördert worden war, ihre Versuchsstrecke für die erste elektrische Bahn an. Laut Vereinbarung mit Carstenn musste die Firma als Gegenleistung das Personal der Hauptkadettenanstalt kostenlos in der neuen Bahn befördern. Der Wissenschaftler Manfred von Ardenne hatte in der Villa am Jungfernstieg 19 – heute Villa Folke Bernadotte – ein Forschungslabor für Elektronenphysik eingerichtet. Dort entwickelte er die elektronische Bildzerlegung und Wiedergabe, aus der schließlich die erste Fernsehübertragung mit Kathodenstrahlung gelang. Im Nationalsozialismus widmete er sich der Kernphysik und war nach dem Zweiten Weltkrieg an der Entwicklung der sowjetischen Atombombe beteiligt.

Eingemeindung nach Berlin

Mit dem Beginn der Bebauung der Villenkolonien entstand die Landgemeinde Groß-Lichterfelde, bestehend aus Lichterfelde und Giesensdorf. Sie gehörte zum Kreis Teltow. Im Jahr 1920 beschloss die Verfassungsgebende Preußische Landesversammlung das „Gesetz über die Bildung einer neuen Stadtgemeinde Berlin“, kurz Groß-Berlin-Gesetz. Mit dem Inkrafttreten dieses Gesetzes am 1. Oktober 1920 gehörte Lichterfelde als Ortsteil zu Berlin-Steglitz, seit 2001 zu Steglitz-Zehlendorf. Lichterfelde Ost ist nach wie vor eine beliebte Wohngegend, in der noch viele Häuser aus den Anfangsjahren erhalten sind.

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