Erschienen in Nikolassee & Schlachtensee Journal Februar/März 2019
Die Wissbegier war ihr vermutlich in die Wiege gelegt worden, Lydia Rabinowitsch wurde 1871 als eines von neun Kindern eines litauischen Brauereibesitzers geboren. Sie besuchte das Mädchengymnasium ihrer Heimatstadt Kowno und begeisterte sich vor allem für die Naturwissenschaften. Anschließend wollte sie ein Studium aufnehmen, das war jedoch sowohl in Russland als auch in Preußen für Frauen nicht möglich. Die Schweiz war fortschrittlicher und da Frauen dort zum Studium zugelassen waren, ging Lydia nach Zürich und Bern. Dort besuchte sie die naturwissenschaftlichen Vorlesungen und schloss das Studium mit ihrer Dissertation über die „Entwicklungsgeschichte der Fruchtkörper einiger Gastromyceten“ mit summa cum laude ab.
Nach dem Studium arbeitete sie in Berlin bei dem Nobelpreisträger Robert Koch. Es war zwar eine Ehre, als einzige Frau dort arbeiten zu dürfen, allerdings wurde Lydia Rabinowitsch nicht für ihre Arbeit bezahlt. Sie hatte eine unbezahlte Assistentenstelle. Die junge Wissenschaftlerin entschloss sich zu einem Aufenthalt in Amerika, da ihr in Deutschland keine wissenschaftlichen Freiheiten gelassen wurden. Sie besuchte das weltweit erste Medizin-College für Frauen in Philadelphia. Beim Aufbau einer Abteilung für Bakteriologie war sie dabei und erhielt eine Assistenzprofessur. Die Semesterferien verbrachte sie in Berlin, wo sie den jungen Wissenschaftler Walter Kempner kennen lernte, der bei Robert Koch arbeitete. Die Beziehung zu Walter Kempner führte dazu, dass sie endgültig nach Berlin zurückkehrte, wo ihre Professur nicht anerkannt war. 1898 heirateten Lydia und Walter.
Ein großes gesundheitliches Problem im dicht bevölkerten Berlin war die Tuberkulose, deren Herkunft noch unbekannt war. Auch Robert Koch suchte mit seinen Mitarbeitern nach der Ursache. 1882 entdeckte Robert Koch das Tuberkelbazillum als Ursache der Krankheit. Für diese Entdeckung erhielt er 1905 den Nobelpreis für Medizin. Doch anfangs fehlte das Wissen über die Übertragung. 1895 fand Lydia erstmals Tuberkeln in Butter. Nach ihrer Rückkehr aus den USA forschte sie weiter und kam zu der Überzeugung, dass die Tuberkeln aus der Milch infizierter Rinder bei Menschen doch zur Tuberkulose führen würden. Robert Koch beauftragte sie, weitere Untersuchungen in der Richtung anzustellen. Um die Bakterien abzutöten, wurden verschiedene Erhitzungsverfahren ausprobiert - so lange, bis wirklich alle Keime in der Milch abgetötet waren. Die Entdeckung führte dazu, dass Milch bis heute pasteurisiert wird. Durch die Forschungen wurde Lydia bekannt und das Institut gelangte zur Berühmtheit. Lydia Rabinowitsch-Kempner wechselte später von dem Institut von Robert Koch in das Pathologische Institut.
1911 mietet die Familie mit ihren drei Kindern ein Haus in der Potsdamer Straße 58a in Groß-Lichterfelde. 1912 wurde ihr von Kaiser Wilhelm II. als erster Frau in Deutschland der Professorentitel verliehen. In ihrem Haus verkehrten viele Frauen mit einer akademischen Ausbildung und Kempners engagierten sich für eine Stiftung, die das Studium von Frauen förderte. 1920 starb ihr Mann Walter mit nur 50 Jahren an Kehlkopftuberkulose, kurz zuvor konnten sie das Lichterfelder Haus noch kaufen. Jetzt stand Lydia mit drei Kindern alleine da. Sie bekam eine Direktorenstelle des Bakteriologischen Instituts im Krankenhaus Moabit. Mit ihrer Arbeit und als Herausgeberin der „Zeitschrift für Tuberkulose“ finanzierte sie den Lebensunterhalt der Familie und die Ausbildung der Kinder. Tragisch war, dass auch die Tochter Nadja im Jahr 1932 an Tuberkulose starb. So verlor die Familie zwei Mitglieder durch die Krankheit, die sie so bekämpft hatten.
Nach der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten wurde Lydia zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Ihre Zeitschrift musste sie ebenfalls in andere Hände geben. Lydia selbst war an Brustkrebs erkrankt und zu schwach für eine Flucht. Sie starb 1935 in Berlin. Ihre Söhne, der Arzt Walter und der Jurist Robert - dessen Patenonkel Robert Koch war - konnten rechtzeitig aus Deutschland in die USA fliehen. Robert W. Kempner wurde US-Bürger und als stellvertretender Hauptankläger 1947/1948 ein wichtiger Teil der Nürnberger Prozesse. Er bekam 1984 das Bundesverdienstkreuz verliehen. Nach seinem Tod 1993 erfolgte die Beisetzung auf seinen Wunsch hin auf dem Parkfriedhof Lichterfelde, in dem Grab, in dem auch sein Vater, seine Mutter und seine Schwester beerdigt wurden. Seit 1995 ist es ein Ehrengrab der Stadt Berlin. Im Jahr 2016 benannte man eine Straße in der Europa-City in Berlin-Mitte nach ihr. Auch ein Schild neben ihrem Foto und ihr Name auf der Berliner Gedenktafel für jüdische Mitarbeiter im Krankenhaus Moabit rufen Lydia Rabinowitsch-Kempner in Erinnerung. Nach ihrem Sohn Robert W. Kempner wurde im Jahr 2003 eine Straße in der Nähe des Dahlemer Wegs benannt.
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