Erschienen in Lankwitz Journal August/September 2019
Ein Bundstäbchen an der Lieblings-Gitarre eines Kunden sitzt zu tief – kein Problem für Florian. Geduldig sucht er im Kästchen, das Stäbchen jeder Größe bereithält, bis er ein passendes gefunden hat. Florian arbeitet seit drei Jahren im „Saitenschiff“ einem der Sozialbetriebe der Reha-Steglitz g GmbH. Er hat ein Händchen für Gitarren und Präzisionsarbeit. Damit nutzt er diese Eingliederungsmaßnahme für Menschen mit psychischer Erkrankung, die hier ein Stück Normalität finden und mit hinaus in den Alltag nehmen sollen. Sie haben Angststörungen, Depressionen oder leiden an den Folgen von Medikamenten- oder Alkoholmissbrauch mit schwerwiegenden Einschränkungen im sozialen und beruflichen Bereich. Die Zahl jüngerer Betroffener ist deutschlandweit steigend.
„Das Saitenschiff“ bietet seit bereits 20 Jahren Eingliederungsmaßnahmen in geschütztem Raum für Menschen mit psychischer Beeinträchtigung, gefeiert wird das am 28. September 2019.
Ohne äußeren Druck und über handicaporientierte Leistungsanforderungen finden die Beschäftigten hier wieder zu geregelter Tagesstruktur zurück, können Sozialkontakte knüpfen und gewinnen über eine für die Tätigkeit gezahlte geringfügige Motivationszuwendung mehr Selbstvertrauen.
Dabei ist deutschlandweites Alleinstellungsmerkmal des inzwischen zur Berliner Institution gewordenen Saitenschiff-Projektes und der ressourcenschonend und nachhaltig arbeitenden Werkstatt, dass hier psychisch erkrankte Menschen ausrangierten und fast schon auf dem Müll gelandeten Instrumenten eine klangvolle Zukunft geben. – Eine sinnvolle Tätigkeit, die gleichzeitig zur Stabilisierung der Beschäftigten beiträgt.
Die Idee für „Das Saitenschiff“ kam ursprünglich von einer befreundeten Musiklehrerin, in deren Schule 20 Gitarren entsorgt werden sollten, da sich ihre Reparatur nicht mehr lohnte. Daraufhin wurde von der Reha-Steglitz die Reparaturwerkstatt für Instrumente im Jahr 1998 im Tageszentrum Kamenzer Damm ins Leben gerufen. Nach Station in der Lankwitzer Kaulbachstraße zog sie schließlich an ihren jetzigen Standort nach Steglitz. In der Halle, wo einst defekte Diensträder der Post ein hoffnungsloses Dasein fristeten, wird heute beschädigten und in die Jahre gekommenen Instrumenten mit lebensverlängernden Maßnahmen auf den Resonanzkörper gerückt. Nebenan im kleinen Laden warten Zubehörmaterial wie Geigen- und Gitarren-Saiten sowie gebrauchte und neue Instrumente auf Käufer.
Gerade für Einsteiger ist das relativ kostengünstige Instrumentenangebot von der Gitarre über die im „Saitenschiff“ selbstgebauten Leiern bis hin zu Trommel, Cajon und E-Piano reizvoll. Blasinstrumente sucht man hier vergebens, ebenso fehlt der Platz, um das Reparatur-Angebot auf raumfordernde Klaviere und Flügel ausweiten zu können. Instrumente, die zur Reparatur abgegeben werden, sollten einen Wert von 500 Euro allerdings nicht übersteigen; aus versicherungstechnischen Gründen, wie man uns erklärt.
Im „Saitenschiff“ werden u. a. nicht nur kostengünstige Gitarren, sondern auch verschiedenste Saiteninstrumente, Xylophone, Perkussionen und Notenständer mit unterschiedlichsten Schäden repariert. Und ist eine Klampfe einmal wirklich irreparabel, werden ihre Teile sorgsam aufbewahrt, um später vielleicht aus ihren und weiteren Überresten eine ganz neue bauen zu können. – Ökologie und Nachhaltigkeit sind in der Reha-Steglitz wichtige Faktoren.
Im Raum neben der eigentlichen Werkstatt stehen Schleifmaschine, Papier- und Kleinsäge. Bohrmaschinen und Werkzeuge jeglicher Art füllen die Regale, Metallschränke bergen Schätze an Instrumenten-Kleinteilen jeglicher Art.
„Wir wünschen uns dringend eine Absaugmaschine für den Staub, der bei den Arbeiten unvermeidbar entsteht“, betont Werkstattleiter und Erzieher Kemal Simsek, der seit 15 Jahren zum Reha Steglitz-Team gehört und verantwortlich für Geschäftsbetrieb, Aufträge, Kontakt, Öffentlichkeitsarbeit und Kundenakquise ist. In der Anleitung der hier Beschäftigten wird er von dem gelernten Zupfinstrumentenmacher Martin Pete begleitet, der seit 13 Jahren auf Augenhöhe und rücksichtsvoll den mit psychischer Beeinträchtigung Arbeitenden begegnet. Die sind mit reichlich Begeisterung bei der Sache. „Hier bleibt die Krankheit draußen“, bringt es einer von ihnen auf den Punkt.
25 Männer und vier Frauen arbeiten als Allround-Handwerker zwischen ein- und viermal wöchentlich in der Saitenschiff-Werkstatt. Wesentlich höher ist der weibliche Anteil im Reha-Sozialbetrieb nebenan, der „Nähwerkstatt“ (siehe Gazette 2/19).
Etwa drei Schulpraktikanten pro Jahr fahren auf dem „Saitenschiff“ mit und lernen dabei einiges über Instrumente und Handwerk, aber auch wichtiges aus dem Sozialbereich.
Überall im Raum stehen und hängen überholungsbedürftige Instrumente: Balalaika, Mandoline, Zymbal, Ukulele, Lyra, Violine – die Auswahl ist groß, egal ob gezupft oder gestrichen. Reha-Steglitz-Beschäftigungsleiter Frank Böcker, erklärt: „Ich habe nicht gewusst, wie viele Holz-Saiteninstrumente es gibt, habe das erst hier gelernt.“
Aber auch Trommeln werden neu bespannt; die Ziegenhäute dafür stehen in einer Ecke bereit.
Rund um den großen Werkstatttisch sitzen die Instrumenten-Doc´s für fachgerechte Wartung, von denen einige selbst Instrumente spielen. Es herrscht ein gutes Betriebsklima, auf gemeinsamen Ausflügen wird auch schon mal die eigene Klampfe rausgeholt. Aktuell wird überlegt, ein Bandprojekt mit den Beschäftigten zu starten.
Einer der Instrumenten-Spezialisten ist Herr Jaschek. Seit 17 Jahren ist der gelernte Schiffs-Elektriker nun auf dem „Saitenschiff“ auf großer Fahrt. Sein Hauptgebiet sind Geigen, aber er erledigt auch gerne kleinere elektrische Reparaturen an Mikrofonen und elektrischen Klavieren. Gibt es größere Probleme mit den Instrumenten, stehen dem „Saitenschiff“ erfahrene Gitarren- und Violinenmeister als Ansprechpartner zur Seite.
Aus Kemal Simseks engagierter Akquise hat sich, gepaart mit der qualitativ hochwertigen Handwerksarbeit, über die Jahre ein erfolgreiches Hauptgeschäft entwickeln können. Rund 200 der etwa 1000 Berliner Schulen lassen ihre Instrumente aus dem Musikunterricht im „Saitenschiff“ regelmäßig reparieren oder überholen und machen damit etwa 80 Prozent der Aufträge aus. Hinzu kommen Reparaturen für Kitas, Musikschulen, Tageskliniken und Privatkunden.
Viel Zeit benötigen die Kundenbesuche: Vor Ort Beurteilungen, Beratungen, Holen und Bringen des musikalischen Inventars sind zeitintensiv. Kemal Simsek hat auch dazu einen Wunsch: „Ehrenamtliche Personen, die uns beim Abholen und Bringen der Instrumente unterstützen, wären eine große Erleichterung für uns“, erklärt er. – Und vielleicht geht dieser Wunsch ja rechtzeitig zur Saitenschiff-20-Jahr-Feier am 28. September 2019 in Erfüllung.
Save the date: Das „Saitenschiff“-Team freut sich auf viele Besucher an diesem „Tag der offenen Tür.“ Gefeiert wird von 14 – 18 Uhr im Hof der Werkstatt in der Bergstraße 1 bei freiem Eintritt. Als musikalische Höhepunkte für Beschäftigte und Besucher spielen die BigBand des Canisius Colleg, Güno van Leyen (Irish Folk), ein Saxophon-Trio und die Band “Zargenbruch“, die im „Saitenschiff“ ihre Wurzeln hat.
Das Saitenschiff
Bergstraße 1
12169 BerlinÖffnungszeiten:
Mo. 14 – 17 Uhr
Di. + Do. 13 – 17 Uhr
Fr. 13 – 15 Uhr
Mi. geschlossen
…und nach telefonischer VereinbarungTelefon: 030 / 319 805 – 151
E-Mail: saitenschiff@reha-steglitz.de
www.saitenschiff.de
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