Erschienen in Gazette Zehlendorf Juli 2019
Der Zehlendorfer Stichkanal, eine Abzweigung des Teltowkanals, ist fast in Vergessenheit geraten. Doch über die Jahre hat sich hier ein bemerkenswertes Biotop entwickeln können, in dem man Eisvogel, Biber, Reiher und Kormoran sowie vielfältige Fischarten und Libellen antrifft, aber auch Seerosen, gelbblühende Teich-Mummeln und Schilfgürtel.
Zu verdanken ist diese Vielfalt zu einem großen Teil der „Interessengemeinschaft Lichterfelder Angler 1927 e. V. (ILA)“, die im Laufe von 92 Jahren aus dem einst kargen und baumlosen Gelände am Gewerbegebiet des Stichkanals von ihrer Uferseite aus eine grüne Oase am Rande der Stadt gemacht hat. Denn – wie der Name sagt – gilt ihr Interesse nicht nur der Hege von Fischen, sondern auch der von Natur und Umwelt.
Folgt man der von der Lichterfelder Goerzallee abgehenden Straße „Am Stichkanal“, muss man, um das Angler-Paradies zu finden, erst einmal vorbei an weniger idyllischen Industriebetrieben. Nach der zweiten Kurve rechts aber, für die Öffentlichkeit nur durch das große Tor mit der Vereinsflagge sichtbar, hat sich die Interessengemeinschaft Lichterfelder Angler 1927 e. V. auf ihrem Vereinsgelände entlang des südöstlichen Zehlendorfer Stichkanal-Ufers seinen ruhigen Rückzugsort geschaffen, von dem auch die Umwelt profitiert. Das Vereinsgelände liegt in direkter und guter Nachbarschaft zur Kleingartenkolonie „Am Stichkanal e. V.“. Von dort wird das Vereinshaus der Angler mit Strom und Wasser versorgt. Rund 40 Holzhäuschen ohne Strom- und Wasseranschluss fügen sich auf dem Areal oberhalb des etwa 50 Meter breiten Stichkanals an dem einen Kilometer langen Kanalweg unauffällig in die Natur. Zäune innerhalb der Anlage gibt es hier nicht. Die schirmen das Vereinsgelände nur nach außen ab, das Mitgliedern und deren Gästen vorbehalten ist. Mit dem Auto können die Angler bis zu ihrem Angelplatz auf dem Gelände fahren. Vom Uferweg führen Steintreppchen hinab zu den jeweiligen Angelständen, von denen es etwa 50 gibt, etwas mehr als Holzhäuschen.
Der Zehlendorfer Stichkanal zählt zu den sonstigen Binnenwasserstraßen des Bundes. Durch den Bau des Teltowkanals Anfang 1900, die damit verbundene Grundwassersenkung und die Trockenlegung der benachbarten Sumpfgebiete blieb nur als Rest des Teltower Sees der geschwungene Verlauf des Zehlendorfer Stichkanals erhalten, und es entstand neues Bauland. Auf den verkehrsgünstig am Wasserweg gelegenen Gewerbegrundstücken siedelten sich große Firmen wie die „Optische Anstalt C.P. Goerz“ sowie die Zehlendorfer Eisenbahn- und Hafen-AG an.
Nach 1945 verlor das Gebiet durch Blockade und Mauerbau an Industrie-Bedeutung, die seit Mauerfall allmählich wieder wächst.
In direkter Nachbarschaft mit der Industrie ist es der ILA gelungen, die Natur-Oase am Stichkanal zu etablieren: Nach vielen Bemühungen, die Lichterfelder Angler zu einigen, entschlossen sich vier Sportfreunde 1927, den Stichkanal zu pachten, da der über einen guten Fischbesatz mit Karpfen, Schleien und Karauschen verfügte. Für den Schiffsverkehr wurden nur die ersten 100 Meter des Mündungsbereiches genutzt. Der Treidelbetrieb aber hinderte die Angler an der Nutzung der hohen Uferböschungen. Im Februar 1927 fand die Gründungsversammlung der ILA statt, die anfangs 33 Mitglieder zählte. Doch der Verein hatte nicht nur gute Zeiten: 1928 gab es Anzeichen einer massiven „Photochemischen“ Verseuchung des Pachtgewässers, bedingt durch die in den Teltowkanal eingeleiteten hochgiftigen Abwässer. Um 1930 war die Existenz der ILA ständig bedroht. Doch dank starken Zusammenhalts schaffte der Verein es immer wieder, – und auch der Stichkanal erholte sich.
Ein Blässhuhn-Nest schaukelte auf der Wasseroberfläche, hier und da auch das Ruderboot eines Anglers. Die Biber schreiben eine deutliche Handschrift, wie etliche Bäume längs des Vereinsweges zeigen – anhand erster Bissspuren oder sogar bereits von dem Nagetier gefällt und malerisch im Stichkanal versenkt. In ihren Ästen unter Wasser finden Fische und Amphibien das ideale Versteck. Und dort hält sich wohl auch der Wels auf, den Vereinsvorsitzender Christian Wolff und die Angler zwar noch nicht gesichtet haben, aber in dem Gewässer vermuten. Besonders wertvollen Baumbestand schützt der Verein, der in regelmäßigem Austausch mit Revierförster und Naturschutzbehörde steht, mit Kaninchendraht vor den scharfen Biberzähnen.
Doch man lebt hier in und mit der Natur. Das wissen auch die Wildschweine, die dem Gelände ihre regelmäßigen Besuche abstatten und schon mal gemächlich über die Terrasse einer Angler-Datsche wechseln.
Christian Wolff ist seit 1992 im Verein dabei, ein Schulkamerad hatte ihn mitgenommen. Christian blieb. Inzwischen zählt er als 1. Vorsitzender zu den jüngeren Vereinsmitgliedern. Das Durchschnittsalter der 52 Mitglieder liegt bei 60, wohl typisches Vereinsphänomen unserer Tage. Als zweiter Vorsitzender ist Dieter Piesker aktiv. 1947 geboren, war er von klein auf im Verein, sein Großvater hat den ILA im Jahr 1927 mit gegründet, sein Vater und sein Onkel waren dann ebenfalls engagiert für den Verein. So treffen hier Tradition und Moderne zusammen. Dieter Piesker erzählt: „Wir haben noch alte Sitzungs-Protokolle aus den Anfangszeiten des Vereins. Da ging es streng zu, es gab zig Regeln.“ Heute lautet die Vereinsdevise dagegen, wie Christian Wolff erklärt: „Regeln, sowenig wie möglich, und so viel wie nötig.“
Neue Mitglieder sind gern gesehen. Die Beiträge sind erschwinglich und beinhalten die Angelerlaubnis für ein Jahr. Doch man muss sich zuerst als Anwärter für die ILA verdient machen, bzw. Interesse zeigen. „Denn nur um zu angeln, bei uns einzutreten, ist zu wenig“, betont der 1. Vorsitzende. Zehn Stunden jährlicher Gemeinschaftsdienst zu Wasser und zu Land gehören ebenso dazu, wie die Identifikation mit der Gemeinschaft und dem Areal. Gibt jemand sein Häuschen im Verein auf, wird dessen Wert zuerst geschätzt, bevor es dann ein anderes Mitglied übernehmen kann. Dabei zählt die Länge der Vereinsmitgliedschaft.
Gäste der Mitglieder dürfen gegen eine geringe Tageskarten-Gebühr ebenfalls auf dem Gelände angeln.
Neben dem Angeln gibt es an diesem Ort der Ruhe immer etwas zu tun.
Das Angeljahr der Vereinsangler beginnt und endet mit der gemeinschaftlichen Gewässerreinigung zu Wasser vom Boot aus und zu Lande. Auf dem Stichkanal werden von den ILA-Mitgliedern überwiegend Ruderboote oder mit Elektro- statt Verbrennungsmotor betriebene Boote eingesetzt. Die Einfahrt für vereinsfremde Boote in den Stichkanal ist ohne Genehmigung jedoch verboten.
Im vergangenen Sommer führten die Mitglieder umfangreiche Uferbefestigungsmaßnahmen auf ihrer Uferkanalseite durch: Auch wenn im Stichkanal selbst kein Schiffsverkehr stattfindet, verursacht der des Teltowkanals heftige Strömungen, die zum Abtragen der Uferränder des Stichkanals führen. Dem steuert der Verein entgegen, indem er regelmäßig kostenintensive Uferpflege betreibt. Auch die Pflege des Baumbestandes reißt immer wieder ein tiefes Loch in die Vereinskasse. Die Angler installieren Insektenhotels, Fledermauskästen und Nistkästen für Mauersegler. Und natürlich kümmern sich die Heger auch um einen ausgeglichenen Fischbestand vor ihrer Vereinstür: Die vor zwei Jahren in den Stichkanal gesetzten Jungschleie bringen inzwischen immerhin um die drei Kilo pro Tier auf die Waage.
So genießen die Angelfreunde mit Recht die Freizeit, die ihnen für ihren Sport bleibt.
Die Artenvielfalt des Stichkanals mit Aal, Karpfen, Hecht, Zander, Barsch, Karausche, Giebel, Rotfeder und Plötze sprechen für sich und die ILA.
Und dann gibt es da noch die unterschiedlichsten Vereinsveranstaltungen vom Damenangeln über Meeresfischen bis hin zum Skatabend und Nachtangeln.
Mit dem Patenverein Hamburg Alster verbindet die ILA eine jahrzehntelange Freundschaft.
Auch der offene Austausch mit Nachbarn ist für die ILA-Angler wichtig, wie Christian Wolff erklärt. Dazu wünscht er sich noch stärkere Kontakte zu den an gegenüberliegender Uferseite ansässigen Firmen. Aber auch an die ILA gibt es einen Wunsch von Bürgerseite aus: Für die gelegentliche Öffnung des Geländes, damit interessierte Besucher sich an besonderen „Tagen der offenen Tür“ selbst ein Bild von diesem besonderen Kleinod machen können. – Zugunsten von Natur und Umwelt am Zehlendorfer Stichkanal.
Jacqueline Lorenz
Interessengemeinschaft Lichterfelder Angler 1927 e. V.
Am Stichkanal 30
14167 BerlinE-Mail: vorstand@ila1927.de
www.ila1927.de
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