Gazette Verbrauchermagazin

Die Nähwerkstatt – ein Sozialbetrieb der Reha-Steglitz gGmbH

Eingliederungsmaßnahme für Menschen mit psychischer Erkrankung

Frank Böcker und Ulrike Siegrist – verständnisvolle Ansprechpartner.
Frank Böcker und Ulrike Siegrist – verständnisvolle Ansprechpartner.
Erschienen in Lankwitz Journal April/Mai 2019
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Nach Aussage der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) erfüllt bundesweit mehr als jeder vierte Erwachsene im Zeitraum eines Jahres die Kriterien einer psychischen Erkrankung. Als häufigste Krankheitsbilder werden Angststörungen, Depressionen und Störungen durch Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch genannt. Für die etwa 18 Millionen Betroffenen und ihre Angehörigen bringt eine längerfristige Erkrankung oft massives Leid und schwerwiegende Einschränkungen im sozialen und beruflichen Leben mit sich. Darüber hinaus sind Psychische Erkrankungen nicht nur die zweithäufigste Ursache für Krankheitstage im Beruf. Sie führen auch häufig zur Frühverrentung.

Das Nicht-(mehr)-Vorhandensein des Arbeitsplatzes bedeutet das Fehlen eines wesentlichen sozialintegrierenden Faktors. Mit dem Verlust von Tagesstruktur, Sozialkontakten und finanzieller Unabhängigkeit beginnt für Langzeiterkrankte nicht selten ein Teufelskreis, der geprägt ist von fehlender Selbstbestätigung, von Isolation und Ausgrenzung.

Die gemeinnützige Reha-Steglitz GmbH unterbricht mit der Trägerschaft ihrer Eingliederungsmaßnahmen mittels Arbeit diesen Kreis. In ihren unterschiedlichen Zuverdienstbetrieben – darunter auch die Nähwerkstatt – fördert sie in geschütztem Rahmen betroffene Klienten darin, behutsam in die Gesellschaft zurückzufinden. Das Tätigkeitsangebot in den jeweiligen Betrieben unterstützt sie ohne äußeren Druck und über flexible, ressourcen- und handicaporientierte Leistungsanforderungen darin, sich über die Arbeit aus eigener Motivation zu erproben, weiterzuentwickeln, langfristig zu stabilisieren und ggf. auf den öffentlichen Arbeitsmarkt zurückzufinden. Eine für die ausgeführte Tätigkeit gezahlte geringfügige „Motivationszuwendung“ hilft nicht zuletzt dabei, das eigene Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen zu stärken.

Von der Kleiderstange zur Nähwerkstatt

Mit dem Ziel, psychisch erkrankten Menschen über eine sinnvolle Beschäftigung in geschütztem Rahmen einen wesentlichen Faktor sozialer Integration und psychischer Stabilisierung bieten zu können, entwickelte die Reha-Steglitz gGmbH ihre Arbeitsangebote.

Die Geschichte der Reha-Steglitz-Nähwerkstatt begann mit dem Ausbau der beliebten „Kleiderstange mit Kleidungsstücken zum Verschenken“ vor über 20 Jahren im Tageszentrum am Kamenzer Damm in Berlin-Lankwitz. Aus der Finanzierung mit ESF-Fördermitteln entstanden flexible Verkaufs- und Lagerflächen, auf denen Modenschauen stattfanden und gut erhaltene Kleidung zu Niedrigpreisen angeboten wurde. Stundenweise betreut wurde die vom Personal des Tageszentrums angeleitete Maßnahme von Klienten. An einer älteren Nähmaschine aus dem Bereich Tageswäsche konnten anfallende Näh- und Ausbesserungsarbeiten ausgeführt werden. Mit steigender Nachfrage wurde die Idee einer Nähstube geboren.

Über weitere Fördergelder erfolgte 2010 die Umsetzung der entsprechend ausgestatteten kleinen Änderungsschneiderei „Verflixt und Zugenäht – kreative und hilfreiche Nähwerkstatt“ im Tageszentrum. Allmählich verlagerte sich der Werkstatt-Schwerpunkt in Richtung Eigenproduktion und Fertigung von Produkten. Dieser Prozess erlaubt den Einsatz und die Verteilung der Näherinnen und Nähern je nach Fähigkeiten auf einzelne Arbeitsabschnitte.

Dazu mietete die Reha-Steglitz im Jahr 2015 die geräumige, ehemalige Paketabholhalle in der Alten Post in der Steglitzer Bergstraße 1 an. Nach umfangreichem Um- und Ausbau eröffnete die Nähwerkstatt Anfang 2016 ihren neuen Standort. Im Gebäude befinden sich heute auch die Reha-Geschäftsstelle sowie die Eingliederungs-Werkstatt zur Reparatur von Saiteninstrumenten „Das Saitenschiff“.

Für Qualität, Nachhaltigkeit und Inklusion

steht die Nähwerkstatt, die von der Straße aus über eine Rampe barrierefrei zu erreichen ist. Ein heller und freundlicher Raum mit Modezeichnungen an den Wänden begrüßt den Besucher, den am Eingang ein Tisch mit breitem Verkaufs-Angebot an selbstgefertigten Kissen, Schürzen, Schnullerketten für die Jüngsten, Brot- und Turnbeuteln, Mäppchen, aber auch ganz besonderen Produkten wie „Tortenträger-Taschen“ erwartet, die dabei helfen sollen, unhandliche Kuchenformen unfallfrei von A nach B zu transportieren. Präsentiert wird das Angebot von den Klienten der Nähwerkstatt auch beim jährlichen Mittelstraßenfest nahe Bahnhof Steglitz oder auf Basaren im Bezirk.

In der Mitte des Raumes ein großer Zuschneidetisch, dahinter der Profi-Bügelautomat, Kettel- und Stickmaschine, die mit Unterstützung des Prämiensparens der Berliner Sparkasse in Abstimmung mit der Senatsverwaltung und des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin e. V., angeschafft wurde.

Ermöglicht wurde die professionelle Ausstattung der Werkstatt aber auch durch Zuwendungen der Software AG-Stiftung in Darmstadt und der Veolia-Stiftung in Berlin.

Eine Reihe von Industrie-Nähmaschinen steht bereit, eine Maschine aus längst vergangenen Tagen ist liebevolle Deko. Der offene Sozialraum bietet für die Pausen, für gemeinsam Geburtstags- oder „Betriebs“feiern Platz; das Fenster mit Panzerglas erinnert daran, dass hier einst der Posttresor stand.

Die ruhige, fast entspannte Atmosphäre der Nähwerkstatt überträgt sich unweigerlich auf den Besucher, der hier fern aller Hektik Näharbeiten in Auftrag geben kann, gerne auch mit individuellem Logo oder mit Stickerei versehen. Gespendete Stoffe sind stets willkommen. Kunden können aus dem vorhandenen Angebot wählen, aus denen das Gewünschte gearbeitet werden soll, oder ihre eigenen Stoffe mitbringen; außerdem etwas Zeit: „Denn wegen der guten Auftragslage und Klienten-Situation benötigen wir etwas Vorlauf“, bittet Ulrike Siegrist um Verständnis. Sie ist stolz darauf, dass die Werkstatt mit ihrer qualitätsvollen Arbeit bereits etliche Stammkunden gewinnen konnte. Änderungsarbeiten, die Kleidung betreffen, werden hier nicht ausgeführt.

Beliebt und möglichst frühzeitig zu bestellen sind die individuell gefertigten Zuckertüten zur Einschulung im Sommer: Entfernt man später ihr Pappinlett, lassen sie sich als fröhlicher Kuschelkissen-Bezug weiternutzen.

Entspannt in den sozialen Alltag zurückfinden

Eine Klientin arbeitet konzentriert an leise surrender Nähmaschine. Sie ist von Anfang an in der Nähwerkstatt dabei und erzählt, dass sie diesen Beruf früher einmal von der Pieke auf gelernt hat und die Beschäftigung ihr hier viel Freude macht, „weil ich dabei auch kreativ tätig werden kann.“ Am Zuschneidetisch nebenan ein junger Mann. Auch er hat Erfahrung im Nähen und geht routiniert mit dem Stoff um. Rund 25 Klienten, branchenbedingt mehr Frauen als Männer, arbeiten zu unterschiedlichen Zeiten in dem niedrigschwelligen Arbeitsbetrieb in den Bereichen Fertigung und Verkauf; meist acht Personen pro 3 ½-Stunden-Schicht. Angeleitet werden sie von Ergotherapeutin Ulrike Siegrist und Modedesignerin Marie Schneider. Bereichs-Leiter Arbeit und Beschäftigung ist Frank Böcker. Sozialarbeiter verstärken das Team.

Potentielle Klienten für die Nähwerkstatt erfahren von diesem Eingliederungs-Angebot über behandelnde Ärzte, Fach-Kliniken oder Jobcenter, aber auch durch Mund-zu-Mund-Empfehlung. Der Maßnahme voran geht ein persönliches Gespräch, wie Frank Böcker erklärt. Und auch während der Beschäftigung findet dann sensible Gesprächs-Begleitung statt, die Probleme zu minimieren und zu lösen helfen soll.

Die Arbeitsprojekte der Reha-Steglitz verbindet dabei nicht nur die soziale Motivation. Vielmehr steht an oberer Stelle auch das Engagement für eine nachhaltige, ökologische und tolerante Gesellschaft, die Sozialbereich und Wirtschaft zum Nutzen aller zu vernetzen weiß.

Jacqueline Lorenz

Die Nähwerkstatt

Bergstraße 1
12169 Berlin-Steglitz

Öffnungszeiten:
Mo., Di., Do. 14 – 17 Uhr,
Mi. 11 – 15 Uhr,
Fr. 9 – 12 Uhr
und nach Vereinbarung

Tel. 030 – 319 805 160
E-Mail: naehwerkstatt@reha-steglitz.de

www.naehwerkstatt-berlin.de

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