Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau Oktober 2019
Anlässlich ihres 200-jährigen Jubiläums zeigt die seit 1891 in Charlottenburg beheimatete Gipsformerei als älteste Einrichtung der Staatlichen Museen zu Berlin erstmals eine umfassende Präsentation ihrer Bestände – als erste Ausstellung in der im Juli 2019 eröffnenden James-Simon-Galerie. Die weltweit größte noch existente Museumsformerei – anfangs Teil der Rauch’schen Werkstätten, dann im alten Museum und später im Königlichen Gießhaus in der Münzstraße – verfügt über ein mehrere Tausend Stücke umfassendes Konvolut historischer Gussformen und Modelle, die auf Werke aller Epochen und Weltkulturen zurückgehen. Mit rund 200 Exponaten widmet sich die Ausstellung dem Thema der Lebend- und Naturabformung und verdeutlicht, wie „nah“ der Gipsabguss dem Leben kommen kann. Anhand einer „Gipsspur“, die sich über die gesamte Museumsinsel Berlin zieht, werden die engen Verknüpfungen der Gipsformerei mit den Skulpturenbeständen der Staatlichen Museen zu Berlin erfahrbar.
Das Abformen von Gegenständen in Gips oder anderen Gieß- und Abformmassen ist eine Kulturtechnik, die zu den ältesten bildnerischen Mitteln der Menschheit gehört. Durch den Direktkontakt mit dem abgeformten Gegenstand gilt die Abformung als authentisch und wirklichkeitsnah. In der Kunst- und Bildhauereigeschichte Europas und Nordamerikas, die sich vom Altertum bis in die Gegenwart an der Darstellung des „echten“ Lebens abgearbeitet hat, ist das Abformen und Abgießen deshalb seit jeher ein beliebtes künstlerisches Verfahren. Der Allgegenwärtigkeit dieser Praxis zum Trotz wurden Skulpturen, die qua Abformung entstanden sind, jedoch traditionell mit einem Negativurteil versehen und bis in die Moderne hinein als Nicht-Kunst disqualifiziert.
In fünf thematischen Sektionen geht die Ausstellung der Idee nach, dass die Abformung dem Leben (und dem Tod) buchstäblich am nächsten kommt. Sie macht die tragende Bedeutung der Abformung in der Geschichte der Bildhauerei deutlich und weicht Grenzlinien zwischen Kunst, Nicht-Kunst, Handwerk und Wissenschaft auf. Gezeigt werden alle Arten von Abgüssen, aber auch Gemälde, Bücher, Druckgrafiken, Fotografien und Videos. Von Tierabgüssen über Totenmasken von Geistesgrößen des 19. Jahrhunderts, Körperteilmodelle aus der Künstlerausbildung und den sensiblen Sammlungsbestand von Menschenabgüssen aus kolonialen Kontexten wird der Bogen zu prominenten Werken von Donatello, Auguste Rodin oder Marcel Duchamp geschlagen, die (vermeintlich) mit Hilfe von Körperabformungen entstanden sind.
Die Ausstellung erschließt den Bestand der Gipsformerei querschnittsartig und stellt ihm Objekte aus den anderen Sammlungen der Staatlichen Museen zu Berlin sowie herausragende Leihgaben u. a. aus dem Kunsthistorischen Museum Wien, dem Kunstmuseum Göteburg, dem Museum für Moderne Kunst Frankfurt am Main oder den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gegenüber.
Als weltweit größte, noch heute aktive Kunstmanufaktur ihrer Art verfügt die Gipsformerei der Staatlichen Museen zu Berlin über ein mehrere Tausend Stücke umfassendes Konvolut von Formen, Master- und Malmodellen. Seit 200 Jahren fertigt sie hochwertige Kunstrepliken aus lokalen, überregionalen und internationalen Museen an. Zum Bestand gehören über 7.000 Abformungen von Originalkunstwerken aus nahezu allen Epochen und Weltkulturen, die auf Wunsch gefertigt werden können. Unter ihnen befinden sich neben vielen Arbeiten unbekannter Meister Formen und Abgüsse von über 400 bekannten Künstler/innen aus der Antike bis zur Neuzeit. Eine besondere Bedeutung für die Gipsformerei haben die Arbeiten der klassizistischen Bildhauer Johann Gottfried Schadow, Schöpfer der Quadriga auf dem Brandenburger Tor und Begründer der Berliner Bildhauerschule, und seinem Schüler Christian Daniel Rauch, erster Gründungsdirektor der Museumsinstitution.
Die Gipsformerei, 1819 durch König Friedrich Wilhelm III. als „Königlich Preußische Gipsgussanstalt“ gegründet, gehört seit 1830 zu den Königlichen, heute Staatlichen Museen zu Berlin. Damit ist sie deren älteste Institution. Ihre Gründung war nur eine von zahlreichen Initiativen des Staates Preußen zur Stärkung von Kunst, Wissenschaft und Industrie. Da in der Zeit des Klassizismus die Nachfrage nach antiken Werken stark gestiegen war und Gipsabgüsse zu jener Zeit teuer aus Italien importiert werden mussten, erhoffte der Staat sich mit der Herstellung von Abgüssen eine neue Einnahmequelle zu erschließen. Ihr erster Leiter war Christian Daniel Rauch, der bedeutendste klassizistische Bildhauer in Preußen.
Ausstellung: Nah am Leben. 200 Jahre Gipsformerei
Museumsinsel Berlin
James-Simon-Galerie, Bodestraße
10178 Berlin30. August 2019 bis 1. März 2020
Öffnungszeiten:
Mo bis Mi und Fr bis So 9.30 bis 18.30 Uhr, Do 9.30 bis 20.30 Uhr
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