Erschienen in Gazette Schöneberg & Friedenau März 2019
Die Arbeitsgemeinschaft „Junge Historiker“ des Schul- und Stadtteilmuseums Friedenau war bereits im Jahr 2015 im Rahmen einer archäologischen Projektarbeit auf Spurensuche in Mittenwalde im Südosten von Berlin. Ziel war die am Nottekanal gelegene historische Mülldeponie auf dem sogenannten Schöneicher Plan. Im Mittelpunkt stand die Suche nach Überresten von Alltagsgegenständen aus der deutschen Kaiserzeit.
Einige der inzwischen mühevoll ausgewerteten Fundstücke stammen von traditionsreichen Firmen mit einer weit über 100 Jahre alten Geschichte. Dazu gehören etwa die aufgefundenen Realien der Firmen Villeroy&Boch (Fliesen), Odol (Mundwasser), Schultheiss (Bier), Ed. Pinaud/Paris (Parfüm) und S.S. Stafford/USA (Tinte).
Im Jahre 1861 wurde der Unternehmer Karl August Lingner; Sohn eines Kaufmanns, in Magdeburg geboren.
Kunstliebhaber Lingner engagierte sich für soziale Einrichtungen auf dem Gebiet der öffentlichen und privaten Hygiene. Sein Leben war eng mit der Marke ODOL und der Mund- und Zahnpflege verbunden.
Der spätere Multimillionär richtete sich schon 1888 gemeinsam mit dem Ingenieurfreund Georg Wilhelm Kraft ein erstes Laboratorium in Dresden ein. Wie viele geniale Erfinder der Gründerzeit begannen die zwei Freunde in einer unscheinbaren Gartenlaube mit ihren Forschungen und Entwicklungen. Neben einem praktischen Rückenkratzer entwickelten sie ein besonderes Lineal, mit dem man frei von Tintenflecken arbeiten konnte. Verlaufene Tinte bei Unterstreichungen und Zeichnungen gehörten für den Benutzer dieses Lineals der Vergangenheit an.
Der große wirtschaftliche Durchbruch gelang Lindner aber durch die Entwicklung und Herstellung des Zahn- und Mundreinigungsmittels unter dem Namen ODOL. Schnell expandierte das Unternehmen, und 1897 hatte das neue Firmengelände der Lingner-Werke-AG in Dresden bereits die stattliche Größe von 12.500 Quadratmetern. Auf dem Areal gab es für Forschung, Entwicklung und Produktion moderne Laboratorien und eine Vielzahl von Misch- und Destillierräumen. Bei der Gestaltung der Produktionsstätten und der Produktionsabläufe setzte Lingner stets auf Effizienz. Ähnlich wie bei vielen erfolgreichen Firmen dieser Zeit, wurden die für die Produktion wichtigen Maschinen, Werkzeuge und Apparaturen in eigenen Werkstätten selbst hergestellt.
Mit einer von Lingner persönlich gezeichneten und entwickelten Spezialmaschine fertigte man Zahnpulverdosen und die Metallverschlüsse für die ODOL-Flaschen aus hochwertigem Blech.
Der Markenname ODOL ist ein Kunstwort, das sich aus dem griechischen Wort odous für Zahn und dem lateinischen Wort oleum für Öl herleitet. Als Marke wurde ODOL erstmalig am 5. März 1895 als Zahn- und Mundreinigungsmittel ins Deutsche Markenregister eingetragen, wobei der eigentliche Erfinder eines ersten Mundwassers mit antibakterieller und pflegender Wirkung Richard Seifert war.
Die drei wichtigen Inhaltsstoffe vom klassischen ODOL-Mundwasserkonzentrat sind bis in die heutige Zeit Minzöl, Salbeiöl und Kamille zur Zahnfleischpflege. Die genaue Rezeptur ist Firmengeheimnis. Für Damen und Kinder wurde in der Kaiserzeit eine mildere Variante mit Rosenduft entwickelt.
Durch die markante Flaschenform wurde ODOL zum Sinnbild für Mundwasser in aller Welt und gilt bis zum heutigen Tag mit der kaum veränderten, für sichere Anwendung stehenden Flaschen-Grundform als Design-Klassiker. Der geschwungene Schwanenhals erleichtert die Dosierung. Die historischen Flaschen gelangten mit 75 und 100 ml Inhalt in den Verkauf. Heute gibt es diverse Sondergrößen mit bis zu 125 ml Inhalt.
Die ersten ODOL-Flaschen wurden aufwändig aus Porzellan gefertigt und mit einem aufgeklebten Papieretikett versehen, die späteren Behältnisse für die rentable Massenproduktion aus weißem Pressglas hergestellt. Zeitweise gab es auch blaue Glasflaschen. An Stelle des früheren Blechschraubverschlusses sitzt heute ein preiswerter Plastikverschluss. Das gleißende Weiß der Flasche assoziiert bis heute Reinheit und Weiß schöner Zähne. Bis zum Jahr 1930 wurde ODOL in mehr als zwanzig Ländern hergestellt.
Karl August Lingner investierte große Summen in die ODOL-Werbung. Bekannte zeitgenössische Maler und Künstler entwarfen Werbekreationen für Litfaßsäulen, Plakatwände, Zeitschriften, Zeitungen und Emailleschilder für Bahnhöfe und Ladengeschäfte sowie Werbung für Busse und Straßenbahnen. Hinzu kamen amüsant gereimte Sprüche kreativer Texter wie dieser:
Was glänzt dort im Walde im Sonnenschein?! Sehs näher und näher blinken! Das sind die Zähne der Schlossfräuleins, die so blendend schimmern und blinken! Und wenn ihr die junge Dame fragt: Das hat Odol, nur Odol gemacht.
Weithin sichtbar war die Luftwerbung auf Zeppelinen. Die Beschriftung der Hülle stellte eine besondere Herausforderung dar, denn vor dem Computer-Zeitalter bildeten Farben, Pinsel und Schablonen die einfache Basis zur praktischen Umsetzung schwierigster Werbeideen.
Findige Werbeprofis entwickelten damals für Weihnachten eine drei-Mark-Geschenkpackung mit Odol-Zahnpulver in ansprechender Dose, Zahnstocher und Anwendungs-Broschüre.
Markengründer Karl August Lingner wohnte standesgemäß in einer vom berühmten Architekten Wilhelm Kreis 1880 gebauten Privatvilla in der Leubnitzer Straße 30 in Dresden, doch verlor er nie die Bodenhaftung. Er setze sich stets großmütig für die kleinen Leute ein und erkannte die wichtige Aufgabe der Hygiene bei der Vermeidung von ansteckenden Krankheiten. Typhus und Tuberkulose waren um 1900 weit verbreitete Krankheiten in Großstädten, bedingt durch ungünstige Wohnverhältnisse armer Menschen. Lingner stellte erhebliche Geldbeträge für die Hygieneaufklärung breiter Bevölkerungsschichten und die Prophylaxe bereit. Unter seiner Regie wurden „Desinfektions-Anstalten“ eingerichtet. Die Mitarbeiter dieser Anstalten kümmerten sich um die Desinfektion von Schulen und Wohnräumen. Ab 1930 nannte man diese Einrichtungen auch Städtische Entseuchungsanstalten.
Karl August Lingner verstarb bereits 1916, nur 55-jährig. Er wurde zunächst im Familiengrab auf dem Johannes-Friedhof in Dresden beigesetzt. Schon zu Lebzeiten hatte Lingner den bekannten Architekturprofessor Peter Pöppelmann beauftragt, sein Grabmal in Form eines Mausoleums in Loschwitz zu planen. Die heute noch prächtige Ruhestätte wurde mitgestaltet von Hans Poelzig und dem bekannten Bildhauer Georg Kolbe.
In aller Munde ist ODOL heute noch, sogar als ein berühmter Cocktail mit Minzöl.
Um die historischen ODOL-Flaschen im Schul- und Stadtteilmuseum Friedenau an der Friedrich-Bergius-Schule zu betrachten, können von Interessierten Termine vereinbart werden.
Dabei gibt es noch mehr zu bestaunen: Im Januar 2019 wurde der Schulgemeinschaft der vom Bezirksamt Tempelhof-Schöneberg denkmalgerecht sanierte Treppenabgang zum Pausenhof der Schule übergeben. Im Rahmen der umfangreichen Grundsanierung des Schulgebäudes wurden sogar fehlende Fliesen des Abganges nachgefertigt, Türen und Wandflächen farblich neu gefasst, und die Tür zum Hof wurde nach Originalvorlagen rekonstruiert.
Asude Gencel/Toni Buchwald von der AG „Junge Historiker“ des Schul-Stadtteilmuseum Friedenau an der Friedrich-Bergius-Schule/Lo
© Gazette Verbrauchermagazin GmbH 2022